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Kapitel 5


Kapitel 5: Die Santa Catalina Mountains



Als wir die Ranch betraten, war der alte Knabe, der sich um unser Pferd kümmern wollte nicht da. Also gingen wir allein zu Mary.
Mary hatte sich einen kugelrunden Bauch angefressen und ihre Beine waren durch das Stehen in der Box etwas angeschwollen, aber für Pat, die das Pferd untersuchte, war alles okay. Sie lobte uns sogar für den guten Zustand des Pferdes. Abgesehen von den Blessuren ihres nächtlichen Ausrittes in Queen Valley sah sie wirklich gut aus. Und die Wunden waren gut verheilt. Wir waren stolz auf uns, und verdammt froh, das zu hören, denn wir hatten sie ja nicht getauscht.
Wir überreichten Pat einen Sack mit den Ausrüstungsteilen, von denen wir glaubten, sie nicht zu benötigen. Gut fünfzehn Kilo. Außerdem nahmen wir an, daß wir im Gebirge, und vor allem in einem Gebirge, in dem angeblich drei Meter Schnee lagen, keine Probleme mit Wasser haben würden. Deshalb füllten wir auch den Wassersack für Mary nicht ganz auf. Auf diese Weise hatten wir schon gute zwanzig Kilo gespart. Dafür bekamen wir aber jetzt von Pat wieder achtzig Kilo Pellets für Mary. Wir hatten auch aus unseren Rucksäcken einiges ausgemistet und hatten den freigewordenen Platz mit Gepäck von Mary aufgefüllt. Wir schätzten das Gewicht auf Marys Rücken auf etwas mehr als einhundert Kilo, Sattelzeug inklusive. Von uns hatte jeder zwanzig. Wir verabschiedeten uns herzlich von Pat und ihrer dicken Freundin und winkten ihnen zum Abschied.
Nach zwei Tagen im Stall brauchte Mary eine besonders gründliche Säuberung. Aber sie machte einen Aufstand daraus. Wir wurden langsam wütend auf sie, als wir den Grund für ihre Aufregung sahen. Ein wunderhübscher Quarterhorsehengst kam locker über den Weg daher geschlendert, und es schien, als ob Mary und er sich schon miteinander bekannt gemacht hatten. Ich guckte Mary entsetzt an. Sie hätte seine Urururururgroßmutter sein können, ich hatte sie schon jenseits von Gut und Böse gewähnt, aber wieder war Mary Lou für eine Überraschung gut. Ich fragte mich, ob sie ihm wohl auch ihr Gatter aufgemacht hatte, und ob es nicht langsam an der Zeit war, ihr das Schachspiel beizubringen, oder sie beim Skat als dritten Mann zu benutzen. Was dieser alte Klepper hier zu Stande brachte war ungeheuerlich.
Der Braune nervte uns, nicht nur, daß er ständig an unsere Ausrüstung ging, schnüffelte und alles auseinander warf, er hatte auch eine gewisse Wirkung auf unsere alte Dame, die sich plötzlich zehn Jahre jünger fühlte. Dann wäre sie zwanzig gewesen und immer noch gute zehn Jahre zu alt für den braunen Adonis. Als wir um zwölf Uhr aufbrachen, war es mit unserer Laune schon nicht mehr weit her. Aber wir hatten die Berge vor Augen und genug frischen Proviant für viele Tage.
Wir folgten gleich dem ersten Weg, der auf der Karte eingezeichnet war und in die Berge führen sollte. Allerdings war hier schon nach zehn Minuten Schluss. Ein Zaun und ein abgeschlossenes Tor. Wir meckerten ein wenig und kehrten um.
Wir liefen bis ganz zum Highway zurück, schwenkten nach links, um in einigen hundert Metern wieder auf einem anderen Weg in Richtung der Berge laufen zu können. So hatten wir uns das wenigstens vorgestellt. So war es aber nicht. Zugegebenermaßen war der Weg da. Er führte wahrscheinlich auch in die Berge, oder wenigstens in ihre Nähe. Aber leider war auch hier wieder das Tor verschlossen.
Da das Tor zu nah an der Straße gelegen war, um es auf zu schneiden, schauten wir uns nach einem ziemlich langen und derben Ausraster wieder die Karten an und fanden einen anderen Weg. Um den gehen zu können, mußten wir allerdings zuerst wieder zurück und Oracle halb durchqueren.
Also liefen wir wieder am Highway zurück Richtung Oracle. Mary Lou benahm sich immer noch wie eine Verrückte. Mal ging sie zu schnell und überholte mich, mal zu langsam, so daß ich sie ziehen mußte, ständig schubste sie mich von hinten und rempelte mich mit ihren Packtaschen an. Ich verfluchte sie. Sie hatte aber auch gar keine Lust, wieder mit uns in die Berge zu gehen, um für uns den Packesel zu spielen. Sie wollte lieber bei ihrem hübschen Braunen bleiben.
So pesten wir uns gegenseitig annervend durch dieses widerwärtige Provinznest auf der Suche nach einem Fluchtweg. Dabei entpuppte sich Oracle als wirklich hässliche Stadt. Zersiedelt, ohne Plan verbaut und mit größtenteils oberflächlich angelegter Infrastruktur wie Strom und Telefon. Alles sah schmutzig aus und so, als ob man sich im Kampf gegen das wuchernde Unkraut schon vor langer Zeit geschlagen gegeben hatte.
Wir hasteten zwischen einigen Mobil Home Parks hindurch und erreichten die südlichen „Suburbs“ der Wüstenmetropole. Hier sollte ein Weg in die Berge führen.
Ich will nicht großartig um den heißen Brei herum reden. Nach einer halben Stunde fanden wir den Weg wie immer mit einem Tor verschlossen. Mary war nicht zu bändigen, und ich war  so weit, sie einfach stehen zu lassen. Wir drehten um und nahmen einen anderen Weg.
Ein Mann kam uns entgegen und erzählte uns etwas von einem Cattleguard. Viel länger habe ich ihm nicht zugehört, da ich mit einem plötzlichen Ohnmachtsgefühl kämpfen mußte.  
Er sagte, daß hier alle Tore abgeschlossen seien, um marodierenden Jugendlichen mit ihren Motorrädern den Zugang zu den Privatbesitzen vor den Bergen zu verwehren. Sein Geschwätz kam mir vor, als ob er mit 50 geboren worden war, und Oracle mit seiner tödlichen Langeweile als eine Art kontemplatives Karma-Zentrum mit Relevanz für die ganze abendländische zen-inspirierte  Welt empfand. Er war einer von denen, die die Jugend von heute nur deshalb für schlecht halten, weil sie keinen Sinn mehr in gepflegten Vorgärten sieht.
Aber er zeigte auf einen Wasserturm auf dem Gipfel eines nahegelegenen Hügels. Dort sollte noch ein anderer Weg aus Spießerhausen abgehen. Wir latschten los.
Kaum 100 Meter weiter hielt ein Auto an, und der Fahrer, neugierig geworden durch unser Pferd, erkundigte sich über unser Vorhaben. Wir waren überhaupt nicht mehr auf höfliche Konversation aus, aber der Mann verstand unser Problem seltsamerweise sofort und schlug einen anderen Weg vor, der näher war, und den er immer gehen würde. Ihm wäre dort wenigstens noch kein Zaun oder Cattleguard aufgefallen.
Er mußte sich verguckt haben, denn als wir einen Kilometer nach seiner Wegbeschreibung gelaufen waren, standen wir wieder vor einem Cattleguard. Wir verzweifelten. Es war mittlerweile halb drei und wir hatten noch keinen wirklichen Kilometer hinter uns gebracht. So etwas war uns noch nie passiert. Gab es denn gar keinen anderen Weg für einen Wanderer mit Pferd als den Highway? Was hatte der andere Ami noch gesagt? Oben am Wasserturm ginge es  noch raus?
Wir liefen weiter, und in einer kleinen Pause, in der wir Mary ein Stück abseits angebunden hatten, damit sie sich allein verarschen konnte, gesellte sich ein kleiner Hund zu uns, der uns noch eine weitere Stunde nach der Rast begleitete, wohl in der Hoffnung, endlich aus diesem vermaledeiten Nest raus zu kommen. Aber wir schickten ihn unbarmherzig zurück.
Nach der Pause stiegen wir durch Vorstadtidylle hoch zum Wasserturm. Ich glaubte langsam nicht mehr daran, daß wir es jemals schaffen würden, hier heraus zu kommen, und als wir oben ankamen, war von einem Weg in die Berge nichts zu sehen. Statt dessen sahen wir rechts und links des Wasserturms Häuser. Sehr neue Häuser. Ich ging auf die Knie. Hier war Schluss für mich. Das konnte es doch gar nicht geben! Man mußte doch irgendwie aus diesem Kaff fliehen können! Das war doch nicht Alcatraz!
Es war halb vier, als aus einem der Häuser eine schwächlich wirkende Frau herauskam, und uns fragte, was wir mit dem Hund von McAllans machten. Na, toll, jetzt waren wir auch noch Hundeentführer! Und das in einer Gemeinde, die überall Neighbourhood-Watch-Schilder aufstellte, um dem organisierten Verbrechen von Oracle zu begegnen. Ja, ich konnte sie mir gut vorstellen: alte Greise mit Musketen aus dem Ersten Weltkrieg und dickbäuchige Rambos mit hochmodernen Schnellfeuergewehren, Bud-Light Bierdosen und scharfen Hunden, immer auf der Suche nach randalierenden Jugendlichen und der großen Heldentat.
Wir erklärten ihr, daß der Hund uns freiwillig folgen würde, und daß wir einen Weg aus der Stadt suchen würden, den wir hier bei ihr vermutet hatten.  
Wir schienen nicht die ersten zu sein, die sich für den Weg interessierten, jedenfalls wußte sie sofort, wovon wir sprachen. Aber den Weg gäbe es schon lange nicht mehr. Man hätte die neuen Häuser dorthin gebaut, wo früher einmal der Zaun mit einem Tor verlief. Aber wir könnten ja fragen, ob man uns über das Privatgrundstück gehen lassen würde.
Also setzte ich das liebenswürdigste Lächeln auf, das ich um diese Uhrzeit nach solch einem Tag noch zu Stande bringen konnte und machte mich auf, den Tag zu retten.
Ich ging auf ein schönes großes Haus zu und war der Meinung, eigentlich erst einmal dem Butler vorsprechen zu müssen, als ein junges hübsches Mädchen die Tür öffnete. Von Panik ergriffen riss ich mir den Hut vom Kopf, wie ich es in tausend Westernfilmen gesehen hatte und hielt ihn mir blöde vor die Brust. Ich war gar nicht darauf vorbereitet, in ein hübsches Gesicht zu gucken, nach so vielen Tagen in der Wüste. Und wie sie duftete!
„Gna, pfüt, brabbel, hmpf?“
„Wie bitte?“
„Könnten wir wohl mit unserem Packpferd durch ihren Garten laufen?“ Gott, kam ich mir albern vor!
„Ihr wollt in die Berge, stimmt‘s? Klar, kein Problem. Nett, daß Sie vorher gefragt haben.“
So einfach war das. Mit hochrotem Kopf ging ich zurück durch den gepflegten Vorgarten und sagte Alex Bescheid.
Die schwächliche alte Dame wollte unbedingt noch mit uns bis zum Zaun gehen, und wir vermuteten dabei Neugier, endlich den Garten des reichen Nachbarn betreten zu können. Abgesehen davon war sie aber sehr nett. Außerdem kam auch das hübsche Mädchen wieder aus dem Haus. Sie hatte sich kurz eine Jacke angezogen und wollte nun auch zusehen, wie wir durch ihren Garten trampelten.
Wir versuchten so wenig wie möglich zu zerstören, aber als Mary herzhaft in einen Strauch Zierblumen biss und dann auf den Gartenpfad äpfelte, wären wir fast vor Scham im Erdboden versunken. Himmel, war das peinlich! Aber die junge Lady freute sich. Das sei prima Dünger für die Blumen. Außerdem sei Mary echt „cute“. Süß.
Gott sei Dank fanden wir an ihrem Zaun eine Möglichkeit, den Draht ohne Probleme so aufzuwickeln, daß wir ihn hinter uns wieder schließen konnten. Wir winkten zum Abschied der alten und der jungen Dame und stürmten dann glücklich, endlich draußen zu sein den nächsten Hang hinauf, der uns zum eigentlichen Weg führen sollte.
Nach etwa dreihundert Metern unbeschwertem, glücklichen Daherziehens in der Fremde, nach einem kurzen Exkurs zu den Sonnenseiten des Wanderns standen wir wieder vor einem Zaun. Irgend jemand ließ nicht locker, uns zu schikanieren. Es war ein alt und gebrechlich aussehender Zaun, und wir traten ihn einfach um. Genug war genug.
Es war kurz vor vier, als wir endlich den richtigen Weg erreichten, der uns über die Santa Catalina Mountains führen sollte. Alex führte wieder Mary Lou, die sich heute einfach nicht beruhigen konnte, und ich hörte ihn immer wieder aufs heftigste fluchen.
Der Weg selbst war anstrengend. Er wand sich in den Foothills des Gebirges zuerst Richtung Süden und schwenkte später nach Osten ab. Es war ein Weg, der scheinbar nicht zum Laufen angelegt worden war, sondern nur für motorisierte Off-Road-Unternehmen, denn der Weg schlängelte sich nicht durch die Täler zwischen den Hügeln, sondern verlief von einem Hügelgipfel direkt zum nächsten. Ich glaube, wir machten auf diesem Weg mehr Höhenmeter, als der direkte Anstieg auf den Mount Lemon ausmachte. Außerdem war der Weg vom Regen dermaßen ausgewaschen, das sich oft meterbreite Rinnen gebildet hatten, die uns das Laufen ziemlich schwer machten. Manchmal verlief der Weg so steil den Hügel herunter, daß Mary fast den ganzen Hang rutschte. Wir dachten schon darüber nach, ihr das Gepäck abzunehmen, und es selbst zu tragen, aber sie schaffte es auch dieses Mal wieder. Sie lief Abschnitte, die wir nur auf allen Vieren meistern konnten einfach im Galopp. Aber natürlich auch auf allen Vieren. Klar.
Ein Gutes hatte die Wegführung über die Hügelspitzen aber, denn sie bot immer einen umwerfenden Blick zurück über Oracle und bis tief hinein in die Wüste. Und auf der anderen Seite konnten wir die schneebedeckten Gipfel der Catalinas sehen. Über ihnen hingen schwere, dunkle Wolkenmassen, Vorboten der Schneefälle fürs Wochenende. Und heute war Freitag. Da mußten wir also durch.
Da wir viel zu spät aus Oracle losgekommen waren, mußten wir wieder umdisponieren. Wir schauten auf die Karte und fanden ein Windrad in angemessener Entfernung zu uns, an dem wir Wasser vermuteten und unser Lager für die Nacht errichten wollten. Als wir das Windrad allerdings erreichten, mußten wir feststellen, daß es gar nicht mehr funktionierte. Das Blatt drehte sich zwar noch tapfer im Wind, aber Wasser förderte es nicht mehr zu Tage. Unter dem Stahlgerüst lagen einige dicke Holzbalken quer über dem Brunnenschacht. Wir schafften es, sie soweit zur Seite zu schieben, daß ich mich hindurchquetschen konnte, und an zwei Seilen gesichert, das Wasser mit unseren Kochtöpfen  schöpfen, und es Alex zum Umfüllen in die Kanister angeben konnte.
So stand ich dann mit gespreizten Beinen direkt über der schwarzen Wasseroberfläche knappe drei Meter tief und stemmte meine Füße gegen die bröckelnden Wände des alten Schachtes. Mir war gar nicht wohl zumute dort unten, aber wir brauchten das Wasser, und das war die einzige Möglichkeit. Ich blinzelte gegen das helle Licht von oben und fühlte, wie sich meine Beine langsam verkrampften. Wir füllten zwei der Kanister auf, und ich schaffte es kurz vor dem Krampf noch das dunkle Loch zu verlassen. Ich wollte gar nicht wissen, wie tief das Wasser gewesen wäre. Oder wie kalt.
Aus Vorsicht vor den Tieren, die hier im Gebirge leben sollten, hatten wir unser Zelt in einiger Entfernung zum Windrad aufgebaut und Mary Lou zurückgelassen. Wir hatten üble Geschichten über Javalinas, eine Wildschweinart und natürlich über Pumas gehört. Gesehen hatten wir allerdings bis jetzt nicht einmal einen einzigen Koyoten. Auch keine Schlangen, oder das berüchtigte Gila Monster, eine etwa einen halben Meter lange Echsenart, die schwarz-gelb gestreift und mit einem dicken Schwanz bewehrt die Wüste durchstreifen soll.
Wir kehrten zu unserem Lager zurück und richteten uns für die Nacht auf ein Unwetter ein, da die Wolken immer bedrohlicher wurden. Wir suchten einen windgeschützten Platz für Mary und beschwerten die Planen, unter die wir immer unsere Ausrüstung verstaut hatten noch mit Steinen. Zusätzlich zog ich noch einen Graben als Regenabfluss ums Zelt. Da es aber noch nicht regnete, blieben wir am Feuer sitzen und erzählten. Über Wohnungseinrichtungen.
Es wurde bald dunkel, und von allen Seiten waren wir von Wolken umgeben. Nur über uns konnte man noch klar die Sterne am stürmischen Himmel sehen. Aus allen vier Himmelsrichtungen zuckten plötzlich Blitze über den Himmel, und der Donner, der ebenfalls vierfach zu hören war, kam uns wie Gefechtslärm vor. Ohne Unterlass jagten die Blitze über den Himmel, manchmal zwei oder drei gleichzeitig. Es war ein ungeheuerliches Schauspiel. Es war eine gigantische Schlacht, die sich dort am Himmel abspielte, und wir saßen genau im ihrem Zentrum.
Da der Regen immer noch auf sich warten ließ, saßen wir immer noch am Feuer, als plötzlich in der Pause zwischen zwei Kanonenschüssen ein lautes Rauschen auf uns zukam. Wir waren etwas erhöht und weit genug weg von Hängen, als daß uns eine plötzliche Flutwelle hätte erreichen können, und was da kam, das war kein Wasser, das war der Wind. Er kam auf uns zu wie ein D-Zug. Heftig bekamen wir seinen Schlag zu spüren. Mit einem Male war er da. Er riss an unseren Kleidern, als ob er uns wegblasen wollte. Er blies fast das Feuer aus, und wir beeilten uns, es zu löschen, damit der Sturm keinen Funkenflug entstehen lassen konnte. Wir überprüften noch einmal die Ausrüstung und Mary Lou und rannten dann, in der Meinung, der Regen würde jetzt auch bald kommen, ins Zelt. Es war gerade mal acht Uhr und schon stockdunkel.
Wir lagen in unseren Schlafsäcken und führten wie jeden Abend unser Tagebuch fort. Dazu benutzten wir wie immer kleine Laternen, in die man Teelichter als Lichtquelle stellen muß, da sie wesentlich billiger waren als Batterien für die Maglite. Und leichter waren sie auch. Sie waren sogar so leicht, daß der Wind, der von außen gegen die Zeltwand drückte, sie einfach umwarf, und das Wachs quer durch unser Zelt fließen ließ.
Die Nacht sollte ziemlich laut werden. Zwar ließ das Gewitter bald nach, und es setzte die ganze Nacht kein Regen ein, dafür stürmte es aber so stark, daß ein paar mal die Zeltwand bis kurz vor unsere Gesichter gedrückt wurde. Wir guckten ständig aus dem Zelt und spähten in der Dunkelheit nach unserer Ausrüstung und nach Mary Lou, aber beiden ging es gut. Vielleicht würde ja der nächste Tag besser werden.
Als wir um halb neun aus dem Zelt krabbelten, war der Himmel immer noch wolkenbedeckt. Auch die Temperaturen ließen etwas zu wünschen übrig. Wir hatten uns an die Wärme der Wüste gewöhnt, und jetzt wollten wir sie auch nicht mehr missen.
Wir stiegen kurz vor Aufbruch noch auf einen nahegelegenen Hügel, von dem wir annahmen, daß er uns eine gute Sicht zurück über die Wüste bieten würde, aber dem war leider nicht so. Alles, was wir sahen, war eine Reihe von Hügeln, die uns die Sicht versperrten und dazwischen die Biosphere II. Immer, wenn wir sie sahen, ging etwas schief. Immer. So auch dieses Mal. Wir drehten uns um und gingen nichtsahnend zurück zu Mary.
Nach etwa eineinhalb Stunden Wanderns kamen wir an die Stelle, vor der uns die Motelbesitzerin aus Oracle gewarnt hatte. Ein Anstieg von etwa dreihundert Metern. Lächerlich hatten wir gesagt, dreihundert Meter bergauf, das ist doch gar kein Problem. Aber nun sahen wir, warum Reiter an dieser Stelle vom Pferd absteigen, um das Pferd nicht zu überfordern, und nur wenige Offroadfahrer behaupten konnten, diese Strecke mit ihrem Jeep gefahren zu sein. Es war immer noch die selbe Sandpiste wie bisher, nur war sie hier dermaßen steil und vom Regen ausgewaschen, daß mir allein beim Anblick schon das Herz in die Hose rutschte. Auf einer Skala von eins bis zehn hätte ich eine neunkommadrei gegeben. Zehn ist ein Überhang.
Alex, der das Pferd gerade führte, weil ich wieder eine von meinen Filmpausen eingelegt hatte lief mit Mary Lou los.
Mary mußte ordentlich Gas geben, damit sie die Steigung bewältigen konnte, und Alex mußte mit seinem schweren Rucksack den Berg vor ihr hoch rennen. Schon nach wenigen Metern sah ich, daß Marys Gepäck durch die extreme Schräglage verrutscht war. Ich schrie Alex hinterher, er solle doch bitte mal rechts ran laufen, damit wir das Gepäck wieder richtig packen konnten, aber es gab weit und breit keine Stelle, an der man mit Mary hätte anhalten können, ohne, daß sie sofort wieder zurückgerutscht wäre.
Nach etwa hundertfünfzig Metern fand er aber doch eine relativ ebene Stelle und hielt völlig aus der Puste an. Langsam stiefelte ich hinterher, in der grausamen Gewissheit, daß er mir gleich sagen würde: „Also ab hier kannst Du sie wieder haben.“ Und genau das sagte er.
Wir rückten das Gepäck wieder einigermaßen grade, und ich gab Alex meine Gehstöcke. Ich schaute Mary skeptisch und ein wenig ängstlich an, die das Ganze eher gelangweilt verfolgte. Ich zog den Hüftgurt meines Rucksacks fester, und machte den ersten Schritt.
Ich wußte, Mary würde wieder drängeln, und ich wußte, wie schnell sie sein konnte, also versuchte ich schneller zu sein. Aber sie drängelte trotzdem. Ich hastete nach vorn, sah Marys Kopf neben meiner Schulter auftauchen, dachte, daß das alles doch gar nicht wahr sein konnte, atmete schwerer und schwerer und versuchte verzweifelt, vor ihr zu bleiben. Das folgende Stück des Weges war so steil, daß wir wieder nicht anhalten konnten. Hätten wir das getan, dann wäre Mary mit dem schweren Gepäck sofort zurückgerutscht. Es gab für uns nur eine Richtung, und die war rauf. Ich rannte den Berg hoch, hatte zwanzig Kilo Gepäck im Rucksack und ein verdammt schnelles Pferd hinter mir. Meine Beine begannen zu brennen, und meine Lungen schmerzten. Mein Herz klopfte, als wollte es mir aus der Brust springen. Mir wurde immer heißer unter meiner Jacke, und ich bemerkte, wie ich plötzlich anfing, heftig zu schwitzen. Meine Beine waren schon durch das untere Stück des Berges etwas in Mitleidenschaft gezogen worden, aber selbst ganz frisch hätte ich diesen Anstieg nicht in Marys Tempo durchgehalten. So kam sie mir von hinten immer näher und bald schon hatte sie mich überholt. Leicht genervt und ziemlich ratlos sah ich zu, wie sich der Führstrick zwischen ihrem Zaumzeug und meiner Hand mehr und mehr spannte, als Mary ihren Vorsprung vergrößerte. Da ich aber noch immer das Seil in der Hand hielt, und somit der eigentliche Führer sein sollte, versuchte ich durch leichtes Ziehen ihr Tempo zu verringern, so daß ich wieder aufschließen könnte. Aber es half nichts. Auch mit mir am Seil zerrend ging Mary unbeirrt ihr Tempo nach oben. Ich kam einfach nicht mit. Der Schweiß lief mir schon in Strömen über das Gesicht, als ich plötzlich mit meinem Rucksack mit Marys Packtaschen zusammenstieß und zur Seite geschubst wurde. Ich taumelte etwas, um wieder Gleichgewicht zu bekommen, ließ das Seil los und sie laufen. Stehenbleiben konnte sie hier beim besten Willen nicht. Mary lief nun führerlos den Berg hinauf, und mir schwante schon wieder Schlimmes, als ich mir vorstellte, daß sie vielleicht oben gar nicht anhalten würde. Ich hatte keine Lust, schon wieder das Pferd zu suchen. Obwohl ich weiter versuchte, in ihrer Nähe zu bleiben und wirklich alles gab, was mein Körper an Reserven hatte, gewann sie mehr und mehr Vorsprung und erreichte die Kuppe gute zwanzig Meter vor mir.
Als ich endlich nach einer Ewigkeit nach ihr oben ankam, hätte ich drei Lungen gebraucht, um das Sauerstoffbedürfnis meines Körpers auch nur im geringsten befriedigen zu können. Meine Waden krampften ein wenig verlegen und meine Oberschenkel gaben sich einer netten Wackelpudding-Party hin, der sich meine Knie begeistert anschlossen. Ich hockte mich hin und stützte mich mit den Armen auf. Mir war kotzübel. Mit brennenden Augen guckte ich rüber zu Mary Lou, die mit verrutschtem Gepäck, nassgeschwitzt und mit zitternden Beinen einige Meter von mir entfernt am Wegesrand stand. „Ächüugh...“, war alles, was ich noch stammeln konnte. Wenigstens war das Pferd noch da.
Alex und ich hatten uns die Anstrengung geteilt, sie den Berg hinauf zu führen. Dadurch mußten wir beide nur jeweils die Hälfte des Hanges so schnell gehen, um mit Mary Schritt zu halten. Mary Lou hatte aber den ganzen Berg über so schnell gehen müssen. Wie hatte sie das nur gemacht? Draußen in der Wüste war sie doch so schwach gewesen! Wieso konnte sie uns auf einmal alle in Grund und Boden laufen? Konnte dieses Pferd nur im Gebirge laufen? Ich verstand das alles nicht. Aber ich hörte schnell wieder auf, darüber nachzudenken, denn Denken kostete Luft, und die hatte ich im Moment nicht.
Alex kam ein paar Minuten später, und ich rappelte mich schnell auf, damit er nicht sehen konnte, wie fertig ich war. Aber er sah es trotzdem, denn meine Beine zitterten noch immer wie Espenlaub. Dieser kurze Anstieg hatte es in sich gehabt. Wir suchten eine windgeschützte Stelle und machten Pause. Jetzt fing es auch endlich an zu regnen. Endlich ist hier vielleicht das falsche Wort, aber schon den ganzen Tag hatten dicke Wolken den Himmel verdunkelt, so daß wir eigentlich nur darauf gewartet hatten, daß es zu tröpfeln begann. Wir packten Mary wieder ihr Gepäck auf und warfen eine wasserdichte Plane darüber. Dann zogen wir unsere Regenklamotten an und fühlten uns etwas unbehaglich wegen der nassgeschwitzten Sachen darunter.
Wir stiegen jetzt wieder ab und erreichten durch einen ausgetrockneten Creek ein grünes Tal. Die Wände des Canyons ragten steil nach oben, und nach wenigen Metern sahen wir den Canada del Oro, einen Fluß, der die Santa Catalina Mountains nach Norden hin entwässert und in einem großen Bogen um das Gebirge herum nach Süden fließt. An seinem Ufer sollte auch die alte Stadt Nueva Mia Ciudad gestanden haben, unserem ersten Hinweis auf die Mine, die wir hier im Gebirge suchen wollten.
Auf die Geschichte der zweiten Mine, der „Mine mit der Eisentür“ oder auch „Escalante Mine“ nach dem spanischen Jesuitenpadre Alferez Juan Bautista Escalante benannt, war ich bei der Suche nach mehr Literatur über die Superstitions gestoßen. Und zwar hatte ich an der Universität in Bochum das Buch „A motif index to lost mine and treasure legends ...of Arizona...“ gefunden, in dem man über die motivlichen und stilistischen Mittel der Schatzlegenden in Arizona wissenschaftlich gearbeitet hatte. Über die motivlichen und stilistischen Mittel von sage und schreibe 336 Schatzlegenden aus Arizona. Es war so geschrieben, als ob man über die Erzählformen der Gebrüder Grimm diskutieren würde. Eine Ausarbeitung nicht über den Inhalt, sondern nur über den Stil und die oft verwendeten Motive. Das man meisten benutzte Motiv war verlorenes Gold. 336 mal Geschichten über verlorene Schätze waren ein gefundenes Fressen für mich. Ich hatte sie alle in einer Nacht gelesen und mich sofort in die Legende der „Mine mit der Eisentür“ (oder Esperanza Mine) verliebt. Sie sollte in den nördlich von Tucson liegenden Santa Catalina Mountains verborgen sein.
Es kam mir schon etwas komisch vor, das gerade in Arizona so viele Minen verloren gingen, aber wie gesagt, bin ich beim Thema Schatzsuche nicht gerade der kühlste Kopf. Ich hielt es einfach für einen glücklichen Zufall. Seltsam war aber auch für mich, daß von den 336 Geschichten gute 300 von Goldminen handelten und nur ein Bruchteil von wirklichen Schätzen aus bearbeiteten Edelmetall oder gar von Silberminen. Irgendwie machte es den Eindruck, als ob es in Arizona groß in Mode gewesen war, gerade Goldminen zu verlieren, obwohl es doch deutlich mehr Silberminen oder sogar Kupferminen gab. Von einer verlorenen Kupfermine stand jedenfalls nichts in dem Buch. Kupferminen gingen scheinbar nie verloren. Und wenn doch, dann schien es niemanden zu kümmern. Um so besser, dachte ich, wer will sich denn schon mit solch wertlosem Schrott befassen, wenn man Gold finden kann? Wie dem auch sei, die 336 Geschichten waren nur ein Beweis mehr für mich, daß Gold der Stoff war, aus dem man Träume machte.
Außerdem fand ich heraus, daß ein angeblich berühmter Schriftsteller namens Harold Bell Wright eine seiner Novellen über die Mine geschrieben hatte. Ich hatte noch nie von ihm gehört, aber ich bin auch ein ziemlicher Banause. Vielsagend lautet der Titel auch „Die Mine mit der Eisentür“. Ich konnte das Buch auch nach längerem Suchen in allen möglichen Buchläden, auf meterlangen Indexlisten und im Internet (Nachtrag aus dem Jahr 2000: Es gibt eine 18 Bände umfassende Sammlung seiner Novellen unter dem Namen The Mine with the Iron Door bei Amazon.com zu bestellen. Kostenpunkt 199 $) nicht finden und witterte schon wieder eine Verschwörung um die Mine. Jemand hatte alle Hinweise verschwinden lassen, damit niemand mehr die Mine finden konnte! Ein weltumspannender Komplott! Das war klar. Aber nicht mit mir, Jungs. So nicht!
Dadurch, daß ich fast keine Informationen über die Mine in Erfahrung bringen konnte, wuchs mein Interesse an ihr nur noch mehr. Was ich nicht heraus bekam, daß konnte auch sonst niemand in Erfahrung bringen. Gut so. Keine Konkurrenz also, und ich würde die Mine auch so finden.
Das war allerdings nur schwer zu bewerkstelligen, denn alles, was ich wußte war folgendes:
Irgendwann Mitte des 20. Jahrhunderts sollten zwei Bedienstete der Monton Airforce Base in Tucson bei einer Tour in den Santa Catalina Mountains einige rostige Teile eines alten spanischen Schmiedeofens aus dem Jahr 1757 gefunden haben. Die Beiden wußten nicht besonders viel über die Minengeschichte aus vergangenen Zeiten, und so maßen sie der Entdeckung nicht viel Wichtigkeit zu. Trotzdem hatten sie einen großartigen Fund gemacht.
So soll dieser Ofen in der heute nicht mehr existierenden Stadt Nueva Mia Ciudad, was übersetzt soviel heißt wie Meine Neue Stadt, benutzt worden sein, um Geräte und Werkzeug für den Bergbau herzustellen. Diese Stadt sollte große goldene Glocken besessen haben und für eine einfache Mission von unerhörter Pracht gewesen sein. Als 1767 der königliche Edikt erlassen wurde, der die Jesuiten wegen allzu weltlichen Umgangs mit Wertgegenständen und Abgaben an den spanischen König als abgesetzt erklärt, und durch die Franziskaner ersetzt würden, versuchten sie, in einer Blitzaktion noch einmal so viel Gold wie möglich aus ihren Minen herauszuholen. Dann wollten sie sich mit all ihrem Gold absetzen. Die Indianer, die sie als Arbeitssklaven eingesetzt hatten erkannten aber den Schwindel, und es kam zu einem Aufstand, dem sich einige andere Stämme aus der Umgebung anschlossen. Selbstverständlich waren auch die Apachen wieder mit von der Partie.
Bei einem Fest am San Juan Tag im Juni 1769 kam es zur Katastrophe, als eine große Anzahl von Apachen über die friedlich feiernden Priester und die immer noch treu ergebenen Papago-Indianer herfiel. Es wurden keine Gefangenen gemacht. Nach dem Massaker verwüsteten die Apachen die schon halb geräumte Stadt, nahmen alles mit, was noch irgendwie wertvoll aussah und verschlossen die ergiebige Mine mit einer Eisentür. Dann machten sie die Stelle durch Erde und Pflanzenbewuchs unkenntlich und beseitigten alle Spuren. Von diesem Tag an war die Mine verschollen. In ihr soll nicht nur noch ein Vermögen an nicht abgebautem Erz sein, sondern auch noch einige der größeren Kirchenschätze liegen, die man nicht mehr hatte fortschaffen können und hier verstecken wollte.
Natürlich tauchten einige Jahre später, als sich die Lage wieder normalisiert hatte, aus allen Richtungen Schatzkarten auf, und es gab sogar ein paar Indianer, die von sich behaupteten, sie wären die Nachfahren von Papago-Indianern, die in der Mine gearbeitet hätten und das Massaker überlebt hätten. Und natürlich kannten sie den Weg zur Mine. Den wollten sie aber nicht verraten, oder wenn doch, dann nur gegen sehr viel Geld. Bis heute war keiner der Wege der Richtige.
Es gibt unzählig viele Orte, an dem die Mine versteckt sein könnte, allerdings stimmen alle Versionen und Schatzkarten darin überein, daß die Mine in einiger Entfernung nordwestlich vom Ventana Rock („Fensterfelsen“), einem natürlichen Loch im Fels, zu finden sei. So heißt es in den Erzählungen, daß die Minenarbeiter, wenn sie südöstlich aus dem Eingang der Mine hinaus schauen würden durch das Fenster hindurch sehen konnten. Außerdem kommt in vielen Versionen ein Tunnel vor, den man erreichen würde, wenn man dem Canada del Oro aufwärts ziehend, einem sich stark verengenden Seitencanyon bei einer Quelle nach rechts vom Ende des Mittelcanyons folgen würde. Was immer das auch heißen mag. Ich tippe da auf einen Übersetzer, der ebenfalls der weltumspannenden Verschwörung angehörte.
Einer Geschichte nach, die sich auf ein altes Tagebuch stützt, sollte man dann nach etwa einer Viertelmeile zu in den Felsen gemeißelten und halb verfallenen Stufen kommen, die bis zu einem Höhleneingang führen sollen. Über diesem Eingang sollen in Latein die Wörter ‚Dominus Vociscum’ zu lesen sein. Nach einer guten Stunde Marsch in der Höhle würde man dann am Rand eines etwa zweihundert Fuß tiefen Abgrundes stehen, an dessen Fuße sich ein wunderschönes Tal mit einem Fluß voller Forellen erstrecken sollte. Ab hier solle man etwa eine Meile nach Osten gehen, um die Ruinen der sagenhaften Stadt zu erreichen. Die Mine solle man dann leicht finden können.
Soweit die Geschichte der Mine mit der Eisentür. Das Wichtigste an der Geschichte der Mine war aber, daß sogar seriöse und ernsthafte Wissenschaftler davon ausgehen, daß es in der Nähe von Tucson tatsächlich einmal eine ungeheuer reiche Goldmine gegeben haben muß. Tunnel und Ruinen fand ich schon als ganz kleiner Junge immer höllisch aufregend und außerdem las ich gerne, daß man die Mine nach Erreichen der Ruinen ganz leicht finden könne. Ich wußte nur noch nicht so genau, wie ich die ganzen Schätze diese zweihundert Fuß hohe Felswand hinauf kriegen sollte. Vielleicht würde ich weitere Hinweise auf andere Verstecke finden, deren Reichtümer einfacher abzutransportieren waren. Man ist schließlich auch ein wenig bequem. Ich hatte mich in der letzten Zeit so oft mit Schätzen und Gold beschäftigt, daß ich mir schon vorkam, als ob ich wählerisch sein könnte. Bei 336 Goldgeschichten ist das ja wohl auch kein Wunder. Doch zurück zum Fluß.

Wir liefen einige hundert Meter am Ufer des Canada del Oro stromaufwärts und erreichten bald eine Stelle, an der wir den Fluß überqueren mußten. Der Fluß war an dieser Stelle nur etwa acht Meter breit und sah ziemlich tief aus. Von einer Furt konnte keine Rede sein. Wir fluchten. Zum üblichen Wasser der Schneeschmelze kam heute auch noch der Regen, und es war abzusehen, daß der Fluß noch weiter ansteigen würde.
Alex ging los, um eine Stelle zu suchen, an der man trockenen Fußes den Fluß überqueren konnte, während ich Mary das frische Gras gönnte, das hier zu Hauf wuchs. Bald schon erschien Alex auf der anderen Seite des Flusses und teilte mir mit, daß ich ihm Mary hier rüber schicken sollte, und dann selbst weiter oben eine gute Stelle finden würde.
Also führte ich Mary, wie wir es in den Superstitions schon hundertmal gemacht hatten, an den Fluß heran, und Alex lockte sie mit Leckerchen. Ich stand auf dem ersten Stein im Wasser und ließ ihr Seil los, damit sie allein durch den Fluß laufen konnte, doch sie tat es nicht. Sie schwenkte um und lief zurück. Ich fing sie wieder ein und versuchte es noch einmal. Wieder ließ ich ihr Seil los, und wieder drehte sie um. Ich fluchte nicht schlecht und fing sie ein zweites Mal ein. Ein drittes Mal versuchte ich es, diesmal mit einem Stock bewaffnet, mit dem ich sie notfalls treiben wollte. Aber ich kam gar nicht dazu. Noch bevor ich wieder das Seil loslassen wollte, schubste sie mich mit ihren Packtaschen, und ich stand im Wasser.
Ich brüllte sie an und fluchte wie ein Rohrspatz. Wütend riss ich mir die Schuhe von den Füßen und zog Mary wieder zum Fluß. Wilde Verwünschungen ausstoßend krempelte ich mir die Hose und die Regenhose hoch und steckte vorsichtig den ersten Fuß ins Wasser. Es war eiskalt. Ich machte ein paar Schritte und zerrte Mary hinter mir her. Das Wasser war so kalt, daß meine Füße zu schmerzen anfingen, als ich über die glitschigen Steine balancierte, in der einen Hand Marys Führstrick, in der anderen meine Schuhe.
Ich war noch etwa einen Meter vom anderen Ufer entfernt, als Mary plötzlich schneller wurde. Ich dachte, sie würde mich umrennen, ließ das Seil los und sprang zur Seite. Dabei glitt ich mit dem Fuß zwischen zwei Steine und schlug heftig mit dem Knöchel auf. Und was machte Mary? Sie lief zurück zum anderen Ufer! Ich hörte Alex etwas schreien, aber es ging in meinem Gebrüll unter. Ich war außer mir vor Wut. Ich warf meinen Rucksack und meine Schuhe zu Alex ans Ufer und rannte dann hinter Mary Lou her. Die hatte sich in der Zwischenzeit ein Stück Wiese gesucht und fraß. Ich raste vor Zorn. Ich packte sie am Führstrick, riß ihren Kopf hoch und stand mit erhobener Faust zitternd vor ihr. Ich weiß nicht, was mich abgehalten hat, sie zu schlagen, aber ich habe es nicht getan. Ich habe sie nur wieder angebrüllt und verflucht.
Zum fünften Mal führte ich sie jetzt zum Fluß, und wenn sie dieses Mal nicht rüber gegangen wäre, bei Gott, ich hätte ihr die Kehle aufgeschlitzt. Aber diesmal machte sie es. Alex nahm sie an, ich tupfte die Wunde an meinem Knöchel trocken, und wir stapften weiter. Himmel, was war ich ausgeflippt. So in Rage hatte ich mich noch nie im Leben gesehen. Und ich mochte es auch nicht.
Wir kamen etwa zweihundert Meter weit, da mußten wir wieder durch den Fluß. Der Canyon wurde auf der einen Seite zum Fluß hin so schmal, daß man hier nicht mehr laufen konnte.
Ich zog sofort meine Schuhe aus, krempelte meine Regenhose und meine Hose hoch, nahm Mary am Zügel und durchwatete den Fluß.



Diesmal ging bei mir alles gut. Das Wasser war zwar wieder schmerzhaft kalt, aber Mary machte keinerlei Faxen. Dafür rutschte Alex ab und tauchte, um sich abzustützen mit der Hand, in der er seine Schuhe hielt in den Fluß. Jetzt war er dran mit fluchen. Er hatte wie schon mal gesagt einen interessanten Wortschatz.
Wir hatten es schon vorher gesehen, fünfzig Meter weiter kamen wir an die nächste Überquerung. Wir wollten um alles in der Welt nicht schon wieder durch den Fluß, und so untersuchten wir etwas apathisch die anderen Möglichkeiten.
Der Hang, der uns den Weg versperrte war steil und bewachsen, aber ich wollte trotzdem hochsteigen, um zu sehen, was sich auf der anderen Seite bereitmachte, uns den Tag zu verderben. Also kletterte ich hinauf, saute mich richtig im abrutschenden Dreck ein und schaute, oben angekommen in ein kleines Tal, das genauso aussah wie das, in dem Alex mit dem Pferd wartete. Und ich sah auf den ersten Blick zwei weitere Überquerungen. Meine Füße waren Eisklötze, und der Regen drang langsam durch die Ritzen meiner Jacke. Was sollten wir tun? Ich fluchte auf alle Fälle erst einmal kräftig. Meine Nerven lagen blank. Ich rutschte den Hang wieder herab zu Alex und erstattete Bericht. Nach kurzem Palaver waren wir der Überzeugung, wir sollten das Gepäck über den Hang tragen und auf der anderen Seite Mary wieder beladen. Das war für uns kein Problem, aber ob Mary es schaffen würde? Wir packten sie ab, und dann stieg ich mit ihr unbeladen vorsichtig den Hang hinauf. Aber wieder hatten wir uns viel zu viel Gedanken um das Pferd gemacht, denn es hatte überhaupt keine Probleme, die glitschigen Hänge hoch und auf der anderen Seite wieder runter zu kommen. Danach liefen Alex und ich wieder los, um die Ausrüstung zu schleppen.
Wir waren beide gerade zweimal über den Hangrücken gekrochen, als zwei Mountainbiker völlig verdreckt und am Ende ihrer Nerven aus der Gegenrichtung kamen. Wir betrachteten uns misstrauisch und fragten dann, was die jeweils andere Partei denn hier so treiben würde. Von der Goldsuche erzählten wir natürlich nichts. Bei der derzeitigen Situation war der Gedanke an das Gold auch eher nebensächlich.
Wir erfuhren, daß wir bis zum Coronado Camp, unserem Ziel für heute, noch mindestens sechsmal über den Fluß mußten, und morgen dann noch vier mal. Mir wurde schwindelig. Und das Wasser sollte weiter oben noch tiefer sein. Einmal, so sagten die Biker, sei das Wasser brusthoch gewesen. Keine Chance für Mary.
Die Biker fuhren weiter, auf der Flucht vor dem schlechten Wetter, und ließen uns völlig durchnässt und frierend, vor Dreck starrend und mit weit verteilter Ausrüstung stehen. Das war es dann wohl gewesen. Wir mußten zurück. Alles andere hatte keinen Zweck.
Ich war wie betäubt. Ich drückte mich fest an Mary Lou, meinen einzigen Trost in dieser bitteren Stunde und fühlte mich unendlich leer. Ich sah, wie Alex sich abwandte und ein paar Schritte zur Seite ging. Der Regen tropfte mir vom Hut in den Nacken, aber mir war alles egal. Mein Blick glitt leer über die graue Regenlandschaft und fand nirgends Halt. Mein Herz schmerzte, als ob es jemand brechen würde. Ich konnte keinen Ton sagen.
Dies war eine der dunkelsten Stunden in meinem Leben. Noch nie hatte ich etwas so verbissen verfolgt, wie diese verfluchte Tour. Auch wenn ich viel falsch gemacht hatte, war sie doch ungeheuer wichtig für mich. Und jetzt war sie vorbei. Nach all den Anstrengungen waren wir hier am Ende unseres Weges angekommen. Ich konnte es nicht glauben. Es war zu realistisch für mich.
Alex nahm sich einen Ballen Ausrüstung und stieg den verdammten Hang wieder hoch. Und ich nahm wieder Mary Lou.
Beim Rückweg entdeckte Alex etwas höher am Hang eine alte verlassene Mine, und wir sammelten ein paar Steine ein, die, wie sich später herausstellte Kupfererze waren. Ich nahm sie als Andenken an diesen scheußlichen Tag mit. Sie sollen mich immer an diesen Regentag in den Santa Catalina Mountains erinnern, als mir kalt und elend zumute war. Und sie sollen mir immer sagen: Lauf weiter! Denn es gibt immer eine andere Möglichkeit. Immer. In jenem Moment aber war ich am Ende.
Wir liefen ohne etwas zu sagen zurück, stapften fatalistisch mit unseren Schuhen durch die Flüsse und ließen uns den Regen in die Jacken laufen. Alles war egal geworden. Irgend etwas in uns war gestorben.
Wir liefen zurück bis zu einer Abzweigung, an der wir in Richtung der Burny Mines über Privatland laufen wollten. Es regnete noch immer, aber das war uns schon lange gleichgültig. Wir stiegen wieder ziemlich tief ab und erreichten bald die Burny Mines, privat geführte Kiesabbaugebiete in einem einsamen Tal. Wir schlichen uns im Halbdunkel an den Wohnhäusern vorbei und setzten unseren Weg auf einer guten Piste fort. Bald darauf fanden wir einen ausgezeichneten Platz für unser Zelt mit ausreichend Gras für unsere Mary.
Wir warfen unser Gepäck auf die Erde und während Alex doch bei den Häuser um Erlaubnis fragen ging, baute ich das Zelt auf und kümmerte mich um Mary Lou.
Wir kochten völlig durchnässt im Zelt, und ich schlief schon um acht Uhr zwischen all den nassen Klamotten ein, die wir zum Trocknen ausgebreitet hatten. Gegen halb eins stand ich noch mal auf,  um nach dem Pferd zu sehen, aber alles war in Ordnung. Nur nicht in mir.

Der nächste Tag war ein Sonntag, der 15.03.1998. Wir wurden gegen acht Uhr wach, als erste zaghafte Sonnenstrahlen das Zelt streiften. Der Himmel war zwar immer noch wolkenverhangen, aber vereinzelt kamen doch ein paar wärmende Strahlen durch.
Wir wußten nicht so recht, was wir jetzt tun, wohin wir gehen, ob wir aufgeben sollten oder nicht, oder ob wir das gleiche wie am Vortag noch einmal versuchen sollten. Und anfangs wollten wir es auch gar nicht wissen. Es gab ein kleines Plumpsklo in der Nähe, und ich verzog mich mit meinem kleinen Taschenradio und den Kopfhörern für eine längere Sitzung. Und was für eine Leichtigkeit des Seins! Kacken und Frank Sinatra. Das hätte ewig so bleiben dürfen. Aber bald hatte ich alle Zeitungsstreifen, die als Klopapier an der Wand hingen gelesen.
Wir beschäftigten uns lange mit Spülen und dem Versorgen des Pferdes, aber als schließlich alles getan war, und das Pferd schon gesattelt und bepackt dastand, da zwängte sich die Entscheidung unweigerlich auf.
Wir kramten die Karten raus, die gestern durch den Regen und das häufige Benutzen schon ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden waren und entfalteten sie vorsichtig. Wir suchten nach unseren Möglichkeiten, dem Kampf mit diesem Gebirge eine entscheidende Wende zu geben.
Wir entschlossen uns, bis zur Biosphere II zurückzulaufen und dort einen anderen Weg nach Süden, in Richtung der Stadt Catalina zu nehmen. Dort sollte es eine Rangerstation geben, bei der wir fragen wollten, ob es noch andere Möglichkeiten gab, das Gebirge zu überqueren.
Wir liefen also los, und mußten das ganze Stück, das wir gestern Abend heruntergelaufen waren nun wieder hoch.
Ich konnte mich kaum noch motivieren, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Ich mußte die ganze Zeit über an Dinge denken, die ich sonst zu Hause immer tat. Es waren ganz kleine Sachen. Mit dem Hund Spazieren gehen, ein Bier mit Freunden trinken, laute Musik hören, Kino.
Für unsere Verhältnisse herrschte ein unbeschreiblicher Verkehr. Innerhalb von zweieinhalb Stunden kamen uns zwei Autos entgegen!
Die Landschaft war nicht mehr so schön wie weiter drinnen im Gebirge, wir kamen in die Nähe von noch bewirtschafteten Minen, immer noch auf Privatland, und man sah überall Schuttabladeplätze und Halden. Ein paar künstlich angelegte, total veralgte Abwasserteiche tauchten auf, und schließlich standen wir mitten in einem Fuhrpark von Arbeitsmaschinen. Der Platz war eine einzige Schlammpfütze und in den Lachen schimmerte Benzin in allen Farben.
Wie gesagt war heute Sonntag, und es war anzunehmen, daß niemand hier war. Wir betrachteten einige der Maschinen, erkannten bei einem Großteil nicht einmal den Einsatzzweck und verloren schon bald das Interesse.
Das Gelände wurde immer unübersichtlicher, und schon bald darauf hatten wir uns verlaufen. Wir hörten von irgendwoher Motorengeräusche und überwanden uns, nun doch nach dem Weg zu fragen, obwohl wir hier ja eigentlich gar nicht sein durften. Aber wir wollten uns dumm stellen. Im Moment war das wirklich einfach für uns.
Wir fanden zwei völlig verdreckte Männer, die gemeinsam eine Grabungsmaschine überwachten, und die uns, nachdem sie sich die Brillengläser freigeputzt hatten und uns sehen konnten einen Weg zeigten.
Die beiden waren so verdutzt, daß sie wohl gar nicht begriffen, daß wir hier ohne Schutzkleidung mit Pferd auf Firmengelände herumspazierten. Und wenn der eine seine Zähne in den Mund genommen hätte, dann wäre es für uns auch einfacher gewesen, ihn zu verstehen.
Wir stapften durch den tiefen Schlamm, der unsere Füße und Schuhe bleischwer machte, den nächsten Hügel rauf und sahen im Tal vor uns schon die Biosphere II. Wir dachten, daß es nicht mehr weit bis dahin wäre, und machten eine Pause.
Wir berieten uns, was als nächstes zu tun sei. Wir nahmen uns vor, uns querfeldein bis zur Biosphere durchzuschlagen und dann an ihrem Zaun entlang Richtung Südwesten zu laufen, bis wir auf die Straße trafen, die in unserer Karte eingezeichnet war.
Wir zogen nochmals Marys Gurte nach und stürzten uns dann den Hang zur Biosphere hinunter. Aber so leicht wie unser „Free Willy“ in der flachen Wüste war das Querfeldeingehen nicht mehr. Zu den vielen Sträuchern und Kakteen, die einem den Weg verstellten, kamen nun auch noch Felsbrocken oder kurze Stücke mit steilen Abhängen. Wir brauchten über eine halbe Stunde für den letzten Kilometer. Und es wurde nicht einfacher, als wir den Zaun erreichten.
Wir folgten ihm wie besprochen in südwestlicher Richtung in der Hoffnung, vielleicht den alten Weg doch noch finden zu können, der auf unserer Karte da verlief, wo jetzt die Biosphere II stand. Wir hofften, daß man den Weg beim Bau von Biosphere II mit in die Baupläne aufgenommen hatte und ihn nicht beseitigt hatte. So, wie die Biosphere II lag, führte nur ein kleiner Teil des Weges über das Gelände der Forschungsstation. Er führte vorne hinein und hinten wieder heraus. Wenn es ihn noch gab. Das war unsere Hoffnung.
Aber auch sie sollte ziemlich schnell zerstört werden, denn das Gelände wurde so unzugänglich und steil, daß an ein Weiterkommen gar nicht mehr zu denken war. Jedenfalls nicht mit Pferd und ohne Kletterausrüstung. Wir standen da, auf der einen Seite gähnte der unpassierbare Abgrund, auf der anderen spannte sich der Stacheldrahtzaun der Biosphere II. Wir gaben ihm eine faire Chance.
Wir gingen ein Stück zurück und suchten nach einem Tor, durch das wir auf das Gelände der Biosphere gelangen konnten. Und tatsächlich! Schon nach kurzer Suche hatten wir eines gefunden. Wenn es nur nicht wieder abgeschlossen gewesen wäre!
Wir hatten die Nase voll. Der Zaun hatte seine letzte Chance schmählich vertan, und nun wurde er durchgeschnitten. Wir liefen mit Mary hindurch und während Alex ihn hinter uns wieder flickte, erkundigte ich mich bei verschiedenen sehr irritiert guckenden Leuten nach dem Weg. Aber die Antwort war immer die selbe. Außer dem Highway kenne man hier keinen Weg. Desillusioniert überquerten wir das Gelände der Biosphere II und schnitten uns auf der anderen Seite einfach wieder durch den Viehzaun heraus.
Aber was war es doch für eine Metapher gewesen! Die Biosphere II, hochmoderne Zukunftstechnologie par excellence versperrte zwei Wanderern mit Packpferd (Symbol für die Vergangenheit) den Weg! Und was war es für ein  Bild, zusammen mit unserem alten Pferd an der weißen Glaskuppel vorüber zu schreiten, begafft von den Besuchern und sich doch nicht aufhalten zu lassen! Auf so etwas wie uns waren die Sicherheitskräfte nicht geschult. Wir kamen durch, ohne zu bezahlen.  
Nachdem wir die Biosphere auf so heimtückische Weise wieder verlassen hatten, versuchten wir nun, unseren eigentlichen Weg wiederzufinden.
Zuerst liefen wir wieder Free Willy, stumm beobachtet von den obligatorischen Bullen im Gebüsch. Nachdem wir uns aber etwa drei Stunden durch den Busch gequält hatten, erreichten wir tatsächlich den von uns gesuchten Weg. Wir blickten uns um, und sahen in nicht ganz einem halben Kilometer Entfernung die Biosphere II. Wie das sein konnte, habe ich nie begriffen, wir mußten irgendwie im Kreis gelaufen sein, aber es war schon spät, und wir brauchten einen Lagerplatz mit Wasser. Enttäuscht und müde liefen wir weiter.
In einiger Entfernung war auf der Karte ein Tank eingezeichnet, sonst gab es kilometerweit nichts. All unsere Hoffnung lag auf diesem Tank, der auf einer Karte eingezeichnet war, die nicht einmal die Biosphere II kannte. Und wir wurden bis zum allerletzten Augenblick im Unklaren gelassen.
Zuerst sahen wir nämlich nur eine einfache Elektrostation, und erst als wir direkt davor standen, sahen wir auch den kleinen Wasserbottich.
Es fing wieder an zu regnen, als wir das Zelt aufbauten, und es dauerte nicht lange, da lagen wir in unseren Schlafsäcken und versuchten nicht mehr an den Tag zu denken.

Am nächsten Morgen wurde ich durch Mary Lous aufgeregtes Getrabe wach. Ich schlüpfte aus dem Schlafsack und stand auf, um nach ihr zu sehen.
Sie hatte sich ein Stück Ast zwischen ihr Gesicht und ihr Zaumzeug geschoben. Ich befreite sie davon und fragte mich, warum dieses Pferd nur so viele Schwierigkeiten damit hatte, nachts mal ruhig zu stehen. Entweder trat sie ständig auf meine Goldpfanne, die wir ihr als Futternapf gegeben hatten, oder sie verdrehte sich im Seil, oder sie verhedderte sich in irgendwelchen Büschen, oder, oder, oder. Aber ich mußte trotzdem grinsen. Sie war total verrückt, und ich mochte sie. Allerdings hatte ich kein gutes Gefühl für den Tag.
Wir wuschen uns kurz am Bottich, packten dann zusammen und standen um zwölf Uhr schon wieder vor dem nächsten Zaun. Er war quer über die Straße gespannt.
Wir konnten es nicht fassen, obwohl wir hier schon alles glaubten. Wir wickelten ihn auf und liefen hindurch. Wenn uns jetzt jemand fragen sollte, was wir hier suchten, dann würde es ziemlich schwer werden, zu sagen, von wo wir denn eigentlich herkamen. Denn jede Richtung war von uns aus gesehen verboten.

Bild von Saddle Brooke!

Wir erreichten ein Tal, durch das laut Karte der Weg hätte führen müssen. Aber unten im Tal sahen wir eine riesige Siedlung aus kleinen Häusern, die um einen oder mehrere Golfplätze gebaut waren. Irgend jemand dachte sich ständig etwas neues aus, um uns zu ärgern. Aber wir ließen uns nicht provozieren, stiegen zum Ort hinab, schnitten uns hinter einer Mauer versteckt durch den natürlich auch hier anwesenden Bruder Zaun und stiefelten mitten auf die Hauptstraße. Und obwohl wir zuerst von einem älteren Ehepaar freundlich begrüßt und mit einer Cola beschenkt wurden, tauchte bald der Sheriff in seinem Auto neben uns auf, und fragte, was wir denn hier so auf Privatland machen würden, mit unserem Packpferd, daß gerade auf die Straße geschissen hätte. Dazu machte er ein Gesicht, als ob er seit Jahren keinen guten Witz mehr gehört hatte.
Was sollten wir ihm sagen? Daß wir uns durch den Zaun geschnitten hatten, unser Pferd auf dem Golfrasen hatten weiden lassen, und jetzt auf dem Weg waren, uns eine weitere Stelle zu suchen, an der wir uns wieder durch den Zaun herausschneiden konnten? Das würde er sicher glauben, aber wir wollten ihn trotzdem lieber belügen. Ein Witz kam sowieso nicht in Frage.
Wir wüssten auch nicht, wo wir herkämen. Was, das Örtchen hieß Saddle Brooke und war eine Altenstadt? Nun, ja, davon hatten wir wirklich noch nicht gehört, aber trotzdem wollten wir eigentlich nicht von ihm durch die ganze Stadt eskortiert und zum Ausgang gebracht werden.
Aber der Bulle hatte endlich seine Aufgabe gefunden. Endlich war seine Chance gekommen, zu zeigen, was in ihm steckte.
Es mußte wirklich arg langweilig sein in einer Stadt mit ausschließlich alten Einwohnern. Endlich hatte er einmal echte Gauner geschnappt, er hatte sich dem harten Kampf mit zwei furchterregenden Banditen mannhaft gestellt und sie zur Strecke gebracht. Er konnte seinen Namen in einem Atemzug mit Wyatt Earp, Wild Bill Hickok und Kojak nennen. Ja, heute hatte er wirklich zu Hause etwas zu erzählen. Er war der Held. Wären wir über den Golfplatz geflüchtet, er wäre mit seinem fetten Arsch nicht mal aus dem Auto gekommen.
Als wir nach seinem Dienstschluss immer noch nicht am Stadtrand angekommen waren, kam er sogar in seinem Privatwagen noch einmal vorbei gefahren, um zu sehen, ob wir denn auch tatsächlich verschwinden würden. Die Stadt war einfach nicht groß genug für uns vier.
Saddle Brooke, nur am Rande bemerkt, ist eine der neueren Entwicklungen des Active Retirements in Amerika. Es handelt sich dabei um eine der Städte, die planmäßig von einem großen Konzern gebaut werden, in der sich dann Rentner ein Häuschen kaufen können und abgeschirmt von der Außenwelt ihre letzten Stündlein auf Erden beim Golf verbringen sollen. Grundvoraussetzung für diese extrem  erstrebenswerte Art, sein Alter zu genießen ist allerdings, daß man mindestens fünfundfünfzig Jahre alt ist, keinen aktiven Sex mehr ausübt, keine kleinen Kinder hat, denn die dürfen erst gar nicht rein, geschweige denn wohnen und leben, und man natürlich genug Geld hat. So ein Häuschen kann schon mal dreihunderttausend Dollar kosten. Natürlich ohne Golfwägelchen.
Und so leben nun all die alten Leute in teuer gekaufter Ruhe und in Frieden zusammen und langweilen sich zu Tode. Hier passiert nichts. Vielleicht stehen deshalb überall die typisch amerikanischen Reisemobile vor den Garagen. Damit man der Idylle ins richtige Leben entfliehen kann.
Sechs Kilometer weiter endete die Stadt endlich, und wir standen nun doch am Highway. Und waren so weit von unseren Ziel entfernt wie noch nie. Aus war der Traum von der zweiten Minensuche, aber das belastete uns eigentlich gar nicht so schwer. Der zweiten Mine standen wir sowieso etwas kühler gegenüber, als wir es der Lost Dutchman Mine gegenüber taten. Außerdem hatten wir durch unseren langen Marsch bis hierher soviel durchgemacht, daß die kindliche Freude über eine Goldsuche etwas kitschig und unwahrscheinlich ironisch wirken mußte. Keiner von uns beiden wollte darüber reden.
Also schalteten wir unsere Gehirne aus und marschierten am Highway entlang nach Süden. Die Autos rasten an uns vorbei, und die Luft stank ekelig. Es war wieder heiß geworden, und Mary legte anfangs ein ordentliches Tempo vor, daß sie aber nicht lange halten konnte. Trotzdem waren wir für unsere Verhältnisse ultraschnell. Wir schafften durchschnittlich eine Meile in elf Minuten. Und dann rannten wir durstig in den nächsten Saloon.
Wir banden Mary Lou auf dem Parkplatz an, wurden aber höflichst darauf hingewiesen, daß wir sie doch besser an einen Baum binden sollten, da der Platz, auf dem wir sie abgestellt hatten eigentlich für Autos gedacht gewesen sei.
„No more John Wayne, guys.“
Was war nur aus dem guten alten Westen geworden, in dem man Kartenspiele noch mit dem Revolver gewann und für Pferdediebstahl am Galgen endete? Gott sei Dank war John Wayne schon tot und mußte dieses Trauerspiel nicht mehr mit ansehen. Alex mußte sogar seinen Paß zeigen, um sich ein Bier kaufen zu dürfen.
Wir liefen insgesamt noch etwa drei Stunden von Saddle Brookes Toren aus am Highway entlang, und fanden auf einer kleinen Ranch, den Pusch Ridge Stables einen Zeltplatz für uns, und einen Stallplatz für Mary. Bis zum State Park und den Rangern hatten wir es nicht mehr geschafft, aber der Platz war sehr in Ordnung, und die Besitzer hilfsbereit. Wir gingen noch im etwas weiter entfernten Abco Supermarkt einkaufen und lagen um zwölf im Schlafsack.

Wir campten etwas abseits der Gebäude der Ranch mit guten Blick auf den kleinen Coral, in dem Mary Lou untergebracht war. Wir wollten gerade das Zelt verlassen, als es wie aus Eimern zu schütten begann. Der Himmel war pechschwarz und die Wolken hingen bedrohlich tief. Es blitzte und donnerte unaufhörlich. Wir verdrehten die Augen und bedauerten unsere Mary dort draußen im Unwetter, die den Kopf hängen ließ und die Ohren angelegt hatte.
Da wir heute sowieso nur mit einer Minimalstrecke bis zur Rangerstation rechneten, machten wir es uns im Zelt erst einmal gemütlich, frühstückten in aller Ruhe und schrieben ein paar Briefe.
Kurz bevor es anfing, langweilig zu werden, was bei uns zur derzeitigen Situation recht lange dauerte, da wir uns auf jede Faulenzerei gierig stürzten, hörte der Regen auf, und es setzte unvermittelt Sonnenschein ein. Wir packten unsere Sachen zusammen, warteten noch, bis Mary Lous Rücken trocken war, damit sie sich unter dem Sattel nicht wund scheuerte und verabschiedeten uns von den großzügigen Ranchersleuten.
Wir gingen zurück zum Highway und folgten ihm weiter nach Süden, und während Alex mit Mary schon mal vor lief, wollte ich noch einmal in den Supermarkt, um letzte Besorgungen zu tätigen. Kurz darauf passierte ich ein Schild mit der Aufschrift: Catalina State Park, zwei Meilen. Ich gab mächtig Gas und schaffte die Strecke in zweiundzwanzig Minuten. Meinen Füßen ging es wieder besser. Allerdings war die Flasche Cola, die ich eigentlich Alex mitbringen wollte leer, als ich ankam.
Alex wartete auf mich an Eingang zum Park. Er hatte eine Wasserflasche in der Hand und sah aus, als ob er eine ähnliche Zeit gelaufen wäre. Wir grinsten uns an. So schlecht konnte es uns ja demnach nicht gehen.
Die Straße in den Park zog sich, und es dauerte noch fast eine halbe Stunde, bis wir endlich das Rangerhaus sahen. Ich muß aber zugeben, daß wir nicht mehr auf Rekordsuche waren, sondern Mary immer mal wieder von dem saftigen vollen Gras probieren ließen, das hier im Überfluss wuchs. Der ungewöhnlich viele Regen, hauptsächlich durch das Klimaphänomen El Nino ausgelöst, hatte die Wüste hier am Fuß der Berge in eine wahre Oase verwandelt. Überall wuchsen Blumen, und das Gras mit dem wilden Weizen sproß wie auf den besten Wiesen in Good Old Germany. Marys Augen wurden immer größer.
Während ich das Rangerhaus betrat, um mich mit den Rangern über weitere Routen über das Gebirge zu beraten, wartete Alex mit Mary draußen, und schon kurze Zeit später sah ich, daß er sich mit einem Typen unterhielt, der wie ein Cowboy aussah. Dreckige Jeans, altes Hemd, speckiger Hut, Bart. Cool.
Die Ranger wußten nicht recht, wie sie mir helfen konnten, so etwas wie ich hatte hier noch niemand gefragt. Aber ich könnte gerne mein Pferd in das Equestrian Center des Parks stellen, um dann von hier aus Dayhikes zu unternehmen. Außerdem bot man mir eine Fülle von Wanderkarten an, die irgendwie alle gleich aussahen, und vor Hinweisen auf gepflegte Picknickplätze, die man natürlich mit dem Auto erreichen konnte, nur so strotzten. Also genau das, was wir suchten. Ich bat um kurze Bedenkzeit mit meinen Kumpel draußen und verschwand.
Draußen angekommen machte Alex mich erst einmal mit dem Cowboy bekannt. Er hieß Karl und war gar kein Cowboy, sondern Hufschmied und wohnte direkt neben dem Park auf einer kleinen Freizeitreiterranch. Er hatte uns am Highway gesehen und uns in den Park abbiegen sehen. Er war neugierig, was wir treiben würden, und deshalb hatte er Alex einfach angequatscht. Er war vierundzwanzig Jahre alt, sah aber älter aus, und er war in dieser Gegend aufgewachsen.
Er lud uns zu sich nach Hause ein, wo er uns eine neue Route zeigen wollte, und wo er sich etwas um das Pferd kümmern wollte. Er hatte gesehen, daß Mary Lou etwas ungleichmäßig ging, was darauf hindeutete, daß ihre Hufeisen nicht gleichmäßig angepasst waren, oder sich die Hufe durch die lange Belastung verändert hatten. Es war nicht weiter schlimm, aber wir waren froh, daß sich jemand mit Sachverstand um unsere Mary sorgte. Ansonsten war das Pferd in Ordnung, und als wir ihn sagten, daß wir jetzt schon drei Wochen mit ihr durch die Wüste liefen, sie über ein Gebirge gezerrt und ihr einhundertsechzig Kilo zu schleppen gegeben hatten, da sah er sich das Pferd nochmals an. Es hatte nicht eine wunde Stelle vom Sattel. Nur an einer Stelle fehlte ein wenig Fell.
Seine Augen wurden immer größer, als wir ihm ihr Alter verrieten. Dreißig Jahre. Was für ein Pferd! Karl meinte, er hätte nur sehr wenige Pferde im Leben gesehen, die zu Ähnlichem fähig gewesen wären. Und er war Hufschmied. Er kannte Tausende Pferde. Wir waren stolz wie Kleinkinder, die zum ersten Mal erfolgreich allein auf der Toilette gewesen waren.
Für solch hohen Besuch räumte Karl sofort einen seiner Corrals, steckte eines seiner Pferde zu einem anderen dazu und überließ den leeren Mary Lou. Dann gab es gutes Heu und frisches Wasser. Mary war die Königin.
Wir erzählten Karl unsere Abenteuer mit Mary, wie sie uns ausgebüxt war, wie sie im Stacheldraht hing, wie sie im Fluß umgefallen war, und wie sie uns immer wieder zum Lachen brachte. Es gefiel ihm, wie stolz wir von unserem Pferd sprachen, und er hörte aufmerksam zu. Der alte Klepper, der alle in die Tasche steckte. Aber sie sollte noch einen oben drauf setzen.
Karl lud uns zum Abendessen ein, er war Jäger und hatte seine Kühltruhen voll mit Wild. Er wollte erst wieder jagen gehen, wenn er wieder genug Platz hatte, um das Fleisch zu kühlen. Wir sollten viel essen, damit er bald wieder los konnte.
Er schnitt ein riesiges Stück Fleisch mit einer Säge in tellergroße Scheiben und briet sie über dem Kamin. Dazu gab es soviel Bier, wie wir wollten.
Sein Freund Harry aus Kanada, ein passionierter Marathonläufer, der im Herbst in British Columbia Tannenbäume hackt, diese dann im Winter nach Arizona exportiert und als Weihnachtsbäume weiterverkauft, und davon den Rest des Jahres ganz gut lebt, backte Brötchen.
Damals, als die Regierung der Vereinigten Staaten Männer für den Vietnamkrieg rekrutierte, da flog auch Harry so ein Brief von der Army ins Haus. Viele junge Männer, die damals der Zwangsrekrutierung entgehen wollten, flohen über die Grenze nach Kanada. Harry auch.
Die zwei waren echte Individualisten, und wir fühlten uns in ihrer Gegenwart wohl. Wir hörten gerne dem zu, was sie zu sagen hatten, weil fast alles höllisch interessant war, und die beiden interessierten sich auch für unsere Geschichten.
Wir waren fast schon betrunken, als Karls Freundin Kristen von der Arbeit nach Hause kam. Wankend reichten wir ihr die Hand. Sie war von Karl gewohnt, daß er immer allerlei Typen auf der Reise mit nach Hause brachte, und es störte sie nicht weiter.
Wir aßen alle zusammen das beste Rehfleisch meines Lebens, schütteten uns mit Bier voll und lachten. Dann allerdings holte Kristen eine Schachtel heraus und präsentierte uns eine Sammlung von alten indianischen Tonscherben, einigen Pfeilspitzen und handlich geformten Mühlsteinen. Ich war plötzlich wieder stocknüchtern. Ich betrachtete die Scherben aufmerksam.
Einige waren erstaunlich groß, ein Stück fast so groß wie meine Hand. Es gab Stücke, die abgerundete Kanten hatten, wohl Randstücke. Es gab ganz runde Stücke, die entweder Verzierungen waren oder Griffstücke. Es gab einfarbige und bemalte Stücke. Irgendwie wirkten sie unnahbar und geheimnisvoll wie die Geschichte ihrer ehemaligen Besitzer. Sie sollten von den Hohokam-Indianern stammen, die vor gut vierhundert Jahren in diesem Gebiet siedelten.
Noch vor der Ankunft des weißen Mannes in Amerika war das heutige Arizona und New Mexiko zwischen fünf mehr oder weniger großen Stämmen aufgeteilt. Sie waren alle vorwiegend Farmer.
Die Anasazi („Die Alten“), der größte Stamm der damaligen Zeit, siedelten im Nordosten, die Mogollon (sprich mo-goi-lon) im Nordwesten und Westen ,und die Hohokam im Süden. Dazwischen lebten die beiden viel kleineren Stämme der Salado („Die Salz-Fluß-Leute“) und der Sinagua („Ohne Wasser“). Überreste von allen fünf Kulturen kann man noch heute besichtigen (siehe dazu Kapitel 12 „Sehenswertes in der Region“).
Die Geschichte der Herkunft der Hohokam kann nur geraten werden, wahrscheinlich haben sie sich aber ab dem Jahr 300 vor Christi von Mexiko bis hin zum heutigen Flagstaff ausgebreitet. Bis sie um 1450 plötzlich verschwanden entwickelten sie sich zu den vielleicht geschicktesten Farmern, die die Welt bis dahin gesehen hatte. In ihrer Blütezeit zwischen 1000 und 1450 betrieben sie intensiven Ackerbau mit Hilfe eines ausgeklügelten Bewässerungssystems von künstlich angelegten Kanälen und bauten bis heute erhaltene Bauwerke wie zum Beispiel Casa Grande.
Auch in der Schmuckherstellung und Weberei waren sie Meister. Typisch für die Hohokam ist der Schmuck aus Pazifikmuscheln, die über Hunderte von Kilometern vom Ozean heran transportiert wurden. Aufgereiht und als Ketten um den Hals getragen, oder als Verzierung für Kleider, waren sie nicht nur schön, sondern auch als Tausch- oder Zahlungsmittel von Nutzen. Denn auch wenn ihre Lebensweise und ihre Werkzeuge mit denen der Steinzeit in Europa verglichen werden können, so waren die Hohokam in gewissem Sinne reich. Und ein Garant für die Sicherheit und den Wohlstand der Hohokam war der rege Handel mit den anderen Stämmen, der über teilweise gigantische Entfernungen betrieben wurde. In den verlassenen Wohnstätten aller fünf Stämme hat man Waren oder Schmuck gefunden, die den jeweils anderen der fünf Stämmen zugeschrieben wurden. Auch bei den Stämmen der Plains oder der Rocky Mountains weiter im Norden, die regelmäßig zu Raubzügen nach Süden aufbrachen, waren die feinen Waren der sesshaften Bauern-Indianer heiß begehrt. Aber sogar mit ihnen trieben die Hohokam in Friedenszeiten schwunghaften Handel, tauschten Felle und Fleisch gegen Mais, Weizen oder Kartoffeln. Ob man auch mit Sklaven handelte, oder gegenseitig nur Gefangene austauschte ist ungewiß.
Niemand weiß, was aus den Stämmen der Hohokam, Anasazi oder Salado wurde, als sie plötzlich alle um das Jahr 1450 ihre Wohnstätten mit unbekanntem Ziel verließen. Gewiss ist nur, daß es vor der Ankunft des weißen Mannes in Arizona eine bescheidene Hochkultur gegeben hat. Warum sie so plötzlich endete kann man nur vermuten. Vielleicht war ein Krieg Schuld am plötzlichen Verschwinden, vielleicht war es eine Dürreperiode, auf die die Stämme nicht vorbereitet gewesen waren. Vielleicht hatte ein Schamane ein Zeichen schlecht gedeutet, vielleicht hatte er die Ankunft des weißen Mannes vorausgesagt. Vielleicht war der Grund für das plötzliches Verschwinden aber auch der, daß man sich aller natürlichen Ressourcen, wie Feuerholz, jagdbare Tiere und bestellbaren Boden selbst beraubt hatte, und sich so von seiner Lebensgrundlage abgeschnitten hatte. Der Hohokam war aufgrund seiner Tätigkeit als Bauer an sein Stück Land gebunden, das er durch das mühsame Anlegen von Bewässerungskanälen urbar gemacht hatte, und auf dem er in festen Häusern wohnte. Er konnte nicht mehr herumziehen, wie es die Nomaden auf den Plains taten, die den Büffelherden folgten. Man vermutet, daß der Hohokam mehr nahm, als das Land auf Dauer hergeben konnte. Das Wort Hohokam stammt aus dem Pima-Indianischen und hat zwei Bedeutungen. Einmal kann man es mit „Die, die vorher da waren“ übersetzen. Die andere Bedeutung ist „all used up“ – „Alles aufgebraucht“.
Die Tonstücke, die Kristen uns nun zeigte, hatte sie mit Karl bei einem ihrer häufigen Ausritte in den Bergen gefunden. Wir sollten die Augen offen halten, wenn wir unterwegs wären. Es läge noch genug herum.
Das mußte man uns nicht zweimal sagen. Wir suchten alles, was es nur zu suchen gab, und wenn es Tonscherben eines ausgestorbenen Indianerstammes waren, der sich schon ziemlich früh als Umweltsünder geoutet hatte.
Aber zuerst wankten wir zu Karls Wohnmobil, das er uns als Nachtquartier zu Verfügung gestellt hatte. Auch Entdecker müssen mal schlafen. Wir waren zum ersten Mal wieder zufrieden mit einem Tag und der Alkohol schenkte uns eine ruhige Nacht.

Das bisschen Kater am nächsten Morgen war schnell mit einem Eimer kaltem Wasser und einem starken Kaffe vertrieben.
Karl ging nochmals mit uns die Karten durch und erklärte uns seinen Vorschlag. Er wollte uns zurück nach Oracle fahren und uns etwas außerhalb im Peppersauce Canyon absetzen. Von dort aus sollten wir in zwei Tagen bis Catalina Camp laufen, und dann in einem großen Bogen um das hochgelegene Summerhaven.  Über den Sabino Canyon sollten wir später dann Tucson erreichen. Es sollte ein schwerer Weg sein, sehr hoch und steil, aber machbar. Außerdem mußten wir auf dieser Route oft den Canon del Oro überqueren. Aber das Wetter sah gut aus, und für die nächsten Tage war keine Wetteränderung angesagt, so daß wir hofften, das Wasser wäre vielleicht nicht mehr ganz so hoch, wie bei unserem ersten Versuch.
Eigentlich hörte sich das ganze nicht viel besser an, als unser erster Plan, direkt über Summerhaven zu laufen, in dem immer noch gut drei Meter Schnee liegen sollten. Aber was sollte es? Wieder packten wir unsere Ausrüstung um, sortierten zum zweiten Mal einen Teil als unnütz aus und wogen Marys Futter ab. Wieder konnten wir gut zehn Kilo Gewicht gutmachen.
Langsam fragte ich mich, wofür ich eine so umfangreiche Ausrüstungsliste erstellt hatte. Ich trug seit über drei Wochen die gleiche Hose und meine T-Shirts wurden auch nicht so oft gewechselt. Nur gewaschen. Natürlich. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, daß ich mir bei der Erstellung der Listen doch Gedanken gemacht hatte, die ich jetzt achtlos über Bord kippte. Aber zum Teufel, wofür brauchte ich diese blöden Wäscheklammern?
Karl zeigte uns eine bessere Methode, das Pferd zu bepacken, als Corky es getan hatte und sagte, daß Corky keine Ahnung habe. Er steckte alle Ausrüstungsteile, die hinein passten in die Seitentaschen und band den Rest zu zwei großen Bündel zusammen, die er mit Plane umwickelte und exakt abwog. Sie sollten von oben auf den Rücken des Pferdes gebunden werden. Es sah verdammt gut aus, und es hatte auch nur einen Nachteil. Mary trug zwar jetzt die ganze Ausrüstung, also unsere Schlafsäcke, das Zelt, die Kochsachen und unsere Klamotten, dafür mußten wir aber nun unser Essen tragen. Und das war etwas schwerer als die Schlafsäcke.
Als Karl dann noch mit einem Zwei-Kilo-Fleischstück ankam, das er uns mit auf den Weg geben wollte, trat mir der Angstschweiß auf die Stirn. Aber Alex war so verrückt nach dem Fleisch, daß er das Stück schon im Rucksack hatte, bevor ich überhaupt Hilfe sagen konnte.
Mit verbesserter Taktik, reanimiertem Mut und altem Team bestiegen wir Karls Dodge und fuhren zurück nach Oracle. Es tat uns in der Seele weh, den ganzen Weg, den wir bis Catalina gelaufen waren, als umsonst anzusehen. Aber wir hatten immerhin eine neue Chance erhalten, vielleicht doch noch unsere geplante Strecke von Apache Junction über die Superstition Mountains, 200 km durch die Sonorawüste und über die Santa Catalina Mountains nach Tucson zu laufen. So viele Leute hatten uns unterwegs geholfen, hatten uns Dinge geschenkt, uns Tips gegeben und gute Wünsche, und es war uns allmählich, als ob wir gar nicht mehr nur für uns laufen würden. Wir fühlten uns ein wenig verpflichtet, unser Vorhaben bis zum bitteren Ende durchzuziehen. Ich hatte das Gefühl, daß mittlerweile andere Leute mehr an uns glaubten, als wir es selbst noch taten.
Karl scheuchte seinen Dodge durch die Straßen von Oracle und den Peppersauce Canyon hinauf, bis ein kleiner Fluß den Weg versperrte. Von hier aus hieß es wieder laufen.
Wir becherten noch ein paar übriggebliebene Flaschen Bier von gestern und ließen uns von Karl noch mal genau zeigen, wie man das Pferd richtig packt. Im Prinzip war unsere frühere Methode nicht ganz falsch gewesen, aber sie eignete sich nicht fürs Gebirge, da wir, um Marys Atmung nicht zu beeinträchtigen, die Gurte nie richtig festgezogen hatten. So war der Sattel bei steileren Anstiegen ständig verrutscht.
Karls Methode bestand daraus, durch einen Seilwurf, der sich Double Diamant Stitch nannte, das Gepäck so zu umwickeln, daß es  sich selbst trug. Das war natürlich nur so gesagt, natürlich mußte Mary auch weiterhin das Gepäck tragen, aber während wir vorher immer die einzelnen Gepäckstücke auf sie gelegt oder an sie gehangen und dann einfach an ihr festgezurrt hatten, machte man mit dem Double Diamant Stitch aus dem Gepäck ein festes Bündel. Das heißt, das Gepäck wurde als Paket auf sie gelegt und konnte so nicht mehr von den Seiten auf ihre Lungen drücken. Man kann es sich vielleicht so vorstellen, daß man versucht, Stroh auf dem Pferd zu transportieren. Man kann es einerseits in Packtaschen an den Seiten des Pferdes befestigen, was aber die Atmung beeinträchtigt, weil es von außen auf den Brustkasten drückt, oder man kann einen Strohballen daraus formen, der dann  auf den Rücken geschnallt wird und nur von oben aufliegt. Durch den besonderen Knotenwurf wurde unser Gepäck nun so ein Strohballen. Außerdem war das Gepäck wieder leichter geworden. Eigentlich waren wir nie besser drauf gewesen. Jetzt mußte es einfach klappen. Wir hatten wieder Hoffnung.
Karl begleitete uns noch ein gutes Stück mit seinen beiden Hunden Cassy und Bernhard. Die beiden waren Queensland-Hylers, relativ kleine australische Hirtenhunde, die sich ausgezeichnet für die Jagd eigneten. Cassy war eigentlich Kristens Hund, und Bernhard, aus dem gleichen Wurf wie Cassy, war schon zweimal, nachdem er verkauft worden war wieder zu Karl zurückgekommen. Oder besser gesagt zu Kristen. Er weigerte sich einfach zu gehen. Die beiden liefen zwar immer mit Karl herum, weil er mehr Zeit hatte als Kristen, aber beide verstanden sich eindeutig als Kristens Hunde. Nichts für ungut.
Karl sah unbeschreiblich cool aus. Er trug wieder seine ausgewaschene Jeans und seinen speckigen Hut, hatte sich aber wegen der kühlen Temperaturen einen mexikanischen Wollponcho übergeworfen, den er an der Hüfte mit seinem Pistolengurt zusammenzog. Bei uns zu Hause im Ruhrpott wäre ein Typ wie dieser sofort eingeliefert worden, aber hier passte er genau hin. Es ging sogar soweit, daß ich mir mit meinem Fleecehemd irgendwie fehl am Platze vorkam. Aber immerhin hatte ich ja auch einen Hut auf.
Und dann geschah es. Ich sprang gerade über einen Creek, als ich Karls Stimme hörte.
„Hey, Patrick, da drüben is’ne alte Goldmine!“ Ob er mich verarschen will? Man kann nie wissen. Nachsehen kostet nichts. -  Noch im Flug drehte ich mich um, und als ich endlich die Erde berührte, hatte ich schon den ersten Schritt in Richtung des vermeintlichen Reichtums gemacht. Ein kleiner Sprung konnte schon zuviel Zeit kosten beim Run auf einen Claim. Ich beschloss, nie wieder zu springen.
Karl stand schon am Eingang, und was ich sah, entzückte mein gieriges Auge. Der Creek machte hier eine Rechtskurve und floss an einem steilen Hang entlang, der teils aus harter Erde und teils aus Felsen bestand. Mitten im Hang über dem Creek hatte jemand einen Stollen gegraben, in den man fast aufrecht gehen konnte. Es lagen allerdings so viele herabgefallene Felsbrocken am Boden herum, und es war so steil, daß von aufrechtem Gehen keine Rede sein konnte.
Noch im Lauf kramte ich meine neue Taschenlampe und meine Goldpfanne heraus, die ich vor dem Rationalisierungsprozess der letzten Gewichtsreduzierung bewahrt hatte. Lieber lief ich ohne zweite Unterhose als ohne meine Goldpfanne.
Wir kletterten in die alte Mine hinein und sahen schon nach wenigen Metern, daß sie aus zwei Stollen bestand, die sich teilten. Wahrscheinlich hatte man in der einen Richtung kein Glück gehabt und sich entschlossen, in die andere Richtung weiter zu graben. Und so endete der erste Gang, der geradeaus verlief schon nach etwa fünf Metern. Man muß nicht viel Glück gehabt haben mit dieser Mine, denn auch der andere Stollen war nicht viel länger als etwa acht oder neun Meter. Aber es reichte, um sich ordentlich die Birne zu stoßen.
Ich füllte meine Goldpfanne mit Erde, die ich teils vom Boden aufhob, und teils mit dem Messer von der Decke kratzte. Damit beladen trat ich wieder ins Sonnenlicht und begann, den Dreck im Creek zu waschen.
Die große Ader war natürlich nicht zu entdecken, aber vielleicht reichte es ja für ein wenig Goldstaub. Mit zittrigen Händen hielt ich die Pfanne und starrte in die nasse Masse vor mir. Aber die Stücke, die ich sah, waren viel zu winzig. Man konnte sie noch nicht einmal mit der Messerspitze herausholen. Das frustrierte mich zwar, hielt mich aber nicht davon ab, noch ein zweites Mal in die Mine zu gehen. Als ich zurückkam fragte mich Karl, ob er es auch mal versuchen könnte. Natürlich. Grummel.
Karl kniete sich an den Creek, senkte die Goldpfanne mit dem von mir geschürften, und garantiert goldhaltigen Dreck ins Wasser und ließ die Pfanne gekonnt langsam kreisen.
Was sollte ich tun, wenn er nun in meiner Pfanne Gold fand? Gehörte es mir? Oder ihm? Musste ich ihn mit seinem eigenen Colt erschießen? Vielleicht sollte ich schon mal in eine Position gehen, aus der ich besser an den Colt kommen würde. Oder lieber erstechen? Und Alex?
Um es kurz zu machen, daran, daß die Beiden heute noch leben, kann man erkennen, daß Karl genauso wenig Glück hatte wie ich.
Nach etwa einer Stunde hatten wir genug. Wir verabschiedeten uns herzlich von Karl und liefen los. Wir stiegen durch ein hübsches Tal mit vielen großen Bäumen und schönen Stellen mit viel Gras. Bäume hatten wir schon lange nicht mehr gesehen, und es tat unseren Augen gut, so üppiges Grün zu sehen.
Karl hatte uns relativ weit gebracht, und wir hatten schon mit dem Auto eine Höhe von knapp über zweitausend Meter erreicht. An Stellen mit Aussicht konnten wir in den höher gelegenen Regionen schon den Schnee sehen. Erste Zweifel stiegen in uns auf. Wir wollten heute nur eine kurze Strecke laufen und an einer Stelle übernachten, von der Karl wußte, daß dort ein alter Coral stand, in dem wir Mary Lou gut für die Nacht unterbringen konnten. Außerdem sollte ein kleiner See in der Nähe sein.
Wir liefen nur etwa eine Stunde bis zu der beschriebenen Stelle und fanden alles wie von Karl beschrieben vor. Der Coral war zwar an einigen Stellen zerfallen, aber nichts, was wir nicht mit etwas Draht und Seil hätten reparieren können. So war die Nacht für Mary gerettet.
Da wir schon relativ früh unser Lager aufgeschlagen hatten blieb für mich noch genug Zeit mit Tageslicht, um an dem kleinen Creek, der den See bewässerte, meine Goldpanning-Künste nochmals unter Beweis zu stellen.
Gold. Das Wort wummerte in meinen Ohren. Ich kenne eigentlich niemanden, der sich beim Anblick eines Haufens alter Plastikkreditkarten sonderlich freuen würde. Aber ich kenne sechs Milliarden Menschen, die schier aus dem Häuschen geraten, wenn sie einen Haufen altes Gold finden. Es steckt in uns.
Gold hat eine nahezu magische Anziehungskraft auf Menschen. Es existieren über fünftausend Jahre alte Abbildungen von Goldwäschern aus dem alten Ägypten, es gibt die griechischen Sagen über Jason den Argonauten, der das Goldene Vlies eines sagenhaften Widders suchte, oder König Midas, der alles, was er mit seinen Händen berührte in Gold verwandelte. Es gibt die biblische Geschichte von König Salomons Schätzen, oder die ewige Legende von El Dorado. Eines haben all diese Geschichten gemeinsam. Gold spielt die eigentliche Hauptrolle. Auch in der moderneren Literatur ist das noch so. Zum Beispiel in Stevensons „Schatzinsel“ oder in Jack Londons Goldgräberepos „Alaska Kid“, meinem privaten Favoriten. Die Anziehungskraft des Goldes, einem Metall, daß eigentlich keine wirklich wichtige Funktion hat, außer schön auszusehen, war schon immer unermesslich. Seit es uns Menschen gibt, ist Gold der Stoff, aus dem Träume gemacht werden. Kriege sind um Gold geführt worden, Kontinente entdeckt und unterworfen worden, Gold hat der Welt Reichtum und Elend beschert. Gold ist der Götze, dem die Menschen seit Anbeginn der Zeit ungeniert huldigen. Menschen haben schon immer alles für Gold getan. Gold war der Grund für Hunderttausende gewesen, alles zurück zu lassen und in fremde Länder zu ziehen. Gold hat den Geruch von Verrat und Betrug an sich, von Piraterie und Banditentum, aber immer verbindet man mit Gold auch die Hoffnung auf ein besseres Leben. Gold hat die seltsame Kraft, Menschen verändern zu können, sie in ihrer Gier zu den Sklaven der eigenen Unersättlichkeit zu machen. Gold läßt Menschen in ihrer triebhaften Sucht alle Strapazen der Welt auf sich nehmen, immer in der Hoffnung auf das schnelle Glück. Gold ist Leidenschaft, Gold kann in ekstatische Zustände versetzen, Gold ist Lust und Enttäuschung, Religion und Schmerz. Gold kann die einzig wahre Absolution erteilen, und es schickt einen am Ende doch zur Hölle. Gold offenbart den wahren Charakter der Menschheit. Und der ist schlecht. Und ich bin auch nur ein Mensch, und ich liebe Gold.
Ich blieb fast zwei Stunden am Creek und wusch, was das Zeug hielt. Erst als mein Rücken und meine Knie durch die gebeugte Haltung anfingen zu schmerzen, gab ich zerknirscht auf. Außerdem waren meine Finger schrumpelig aufgeweicht und vom kalten Wasser schon fast steif.
Es war ein ziemlich windiger Tag, und wir saßen dicht aneinander gedrängt an den kleinen Brenner, auf dem wir unser Abendessen zubereiteten, damit der Wind nicht die Flamme ausblasen konnte. Wir aßen das komplette Stück Fleisch, das Karl uns geschenkt hatte, um seinen Kühlschrank leer zu kriegen, mit noch etwas Nudeln und saßen lange mit dicken Bäuchen an ein paar Baumstämme gelehnt im Wind am Feuer. Es war ein guter Tag gewesen, schon der zweite in Folge. Wie unheimlich.
Eigentlich hatten wir allen Grund, zuversichtlich zu sein. Trotzdem schrieb ich an diesem Abend noch kurz vor dem Einschlafen in mein Tagebuch: „Guter Tag, aber ich glaube, wir schaffen es trotzdem nicht.“

Als wir morgens aus dem Zelt krochen, hatte sich der Wind weitestgehend gelegt und warmem Sonnenschein Platz gemacht. Wir frühstückten ziemlich unruhig, denn der Wind von gestern hatte ein paar leichtere Teile der Ausrüstung weg geweht, und wir rannten jetzt mit dem Butterbrot in der Hand durch den Wald und suchten danach.
Irgendwann hatten wir aber genug davon und packten unsere sieben Sachen zusammen. Weil das Wetter so schön war, und der letzte Waschtag schon wieder etwas zurücklag, legten wir noch eine gepflegte Badesession am Bergsee ein. Das Wasser war eiskalt und klar, und es galt bei uns mittlerweile als Männlichkeitsprobe, so oft wie möglich ins frostige Wasser zu springen.
Mary Lou guckte wieder ganz verlegen und hoffte wohl, daß niemand sie hier mit uns Verrückten sehen würde. Sie stand da, fraß ein wenig Gras, ließ sich die Sonne auf den Buckel scheinen und schaute immer, wenn wir sie fragten, warum sie so zu uns rüberglotzen würde, arg in Verlegenheit gebracht weg.
So kam es, daß wir erst kurz nach eins aufbrachen, und den anstrengenden Aufstieg in Richtung Rice Peak begannen. Es machte eine wahre Freude heute zu steigen. Die Luft war herrlich frisch, das Pferd ordentlich beladen, und die Aussicht ließ den Schweiß in den Augen fasst vergessen. Wir konnten sogar wieder die Biosphere II in der Wüste erkennen. Bis jetzt hatte es immer Ärger gegeben, wenn wir sie gesehen hatten, und es sollte auch  diesmal nicht anders werden.
Mit jedem Meter, den wir höher stiegen, fanden wir mehr Schneereste im Schatten der Bäume und Felsen, und schließlich standen wir vor einem etwa fünfzig Meter langen Schneefeld mitten auf dem Weg. Der Weg schlängelte sich an einem steilen Abhang entlang, so daß wir das Schneefeld nicht umgehen konnten. Ich machte einen Probelauf mit meinen Gehstöcken und sank schon nach wenigen Metern bis zu den Knien im Schnee ein. Aber es wurde nicht mehr viel tiefer, und wir wollten es mit Mary probieren.
Alex führte sie auf den Schnee, aber durch ihr noch höheres Gewicht sank sie noch tiefer ein als ich. Sie bockte, wollte nach vorn angaloppieren, stieß mit Alex zusammen, der das Seil losließ und hinfiel, und rannte zurück auf die sichere Erde. Alex kniete im Schnee und sah ziemlich verbittert aus. Er hatte das richtige getan, als er das Seil losließ, denn er konnte mit seinem Rucksack in dem tiefen Schnee nicht mit ihr rennen. Also versuchten wir es anders.
Alex fing Mary wieder ein, während ich meinen Rucksack oben absetzte und durch den Schnee zurückkam. Ohne Rucksack war es eher möglich, das Pferd rennend über das Schneefeld zu führen. Ich nahm sie lang am Zügel und schaute das Schneefeld hoch. Ich hatte mir eine kleine Route markiert, die ich für die einfachste hielt, aber ich hatte Angst, ich könnte es kräftemäßig nicht schaffen. Immerhin waren wir schon fast dreitausend Meter hoch, und die Luft war etwas dünner. (Totaler Weichbrei, ich hatte nur Angst vor dem Pferd.)
Ich rannte los. Ich hörte Marys Hufe zuerst noch die feste Erde treffen und dann war es still. Ich sah Schneebrocken an mir vorbei fliegen und Marys Atem in der kühlen Luft. Meine Beine wurden schon nach den ersten Metern schwer, und ich konnte das Tempo nicht mehr halten. Durch die hektischen Bewegungen, die ich machte, sank ich immer tiefer in den schweren Schnee ein und kam kaum vorwärts. Mary kam mir schon bedrohlich nahe, und ich mußte darauf achten, daß mich ihre Hufe nicht trafen.
Wir waren fast oben angekommen, da war es für mich vorbei. Ich ließ den Zügel los und sprang zur Seite. Heftig atmend blieb ich im Schnee liegen, der meinen aufgeheizten Körper kühlte. Meine Beine waren taub, und in meinen Ohren hörte ich meinen Herzschlag hämmern. Ich hätte keinen Schritt mehr machen können. Mary stand oben und schaute mich an. Sie war einfach besser als ich. Ein unglaubliches Stück Vieh.
Unter großer Anstrengung versuchte ich, mich wieder hoch zu rappeln, versank dabei ein paar mal mit den Armen bis zu den Schultern im Schnee und schleppte mich schließlich umständlich auf die sichere Erde.
Wir rückten die Ausrüstung wieder gerade, die bei der wilden Galoppade verrutscht war und stiegen weiter bergauf. Aber schon hundert Meter weiter kamen wir an eine ähnliche Stelle.
Wieder ging ich vor, um den Schnee zu testen, aber diesmal sank ich schon ohne Rucksack bis zur Hüfte ein. Keine Chance für Mary. Und selbst, wenn sie es hier wieder geschafft hätte, hätten wir laut Karte noch dreihundert Meter höher gemusst, um den Pass zu überqueren, der uns zum Coronado Camp führen sollte.
Alex wartete unten mit Mary Lou und sah fragend zu mir hoch, aber ich brauchte nichts zu sagen. Was es zu sagen gab, konnte jeder sehen. Hier war Endstation für uns. Endstation Nummer drei.
Ich saß mutlos und irritiert im Schnee und merkte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Ich wußte nicht mehr, was ich denken sollte. Ich kam mir völlig deplaziert vor, mit meinen kaputten Schuhen, dem alten Pferd und meinem ausgeblichenen Hut auf den Kopf. Irgendwie war alles verkehrt und falsch. Ich kam mir vor, als ob ich als Clown verkleidet auf einem Opernball erschienen wäre, und alle entgeistert auf mich glotzen würden. Ich kam mir lächerlich und erbärmlich vor. Ich war auf eine seltsame Art und Weise völlig verwirrt und schaute mich hilfesuchend nach allen Seiten um. Aber außer einem geknickten Typen mit Sonnenbrand, Hut und Rucksack, der ein altes weißes Pferd am Zügel führte, konnte ich niemanden sehen. Wieder gingen wir zurück.
Wir liefen den ganzen Weg zurück bis zu der Stelle, an der Karl uns abgesetzt hatte. Hier wollte ich schon mal das Lager aufbauen, während Alex versuchen wollte, ein Telefon bei einem nahegelegenen Campingplatz zu benutzen. Wir wollten einfach wieder Karl anrufen. Er sollte uns hier wegholen. Etwas anderes fiel uns nicht ein. Ich wäre lieber gestorben, als den ganzen Weg nach Catalina nochmals zu laufen. Aber Karl versprach, morgens früh zu kommen und uns abzuholen. Ich konnte mich nicht wirklich über diese Nachricht freuen. Ich war wieder mal am Tiefpunkt angekommen, und nicht einmal eine ganze Packung Cookies konnte mich davon abbringen, schlecht zu träumen.
Karl wollte uns gegen eins abholen kommen, und obwohl wir genügend Zeit hatten, stand ich schon um kurz nach acht vor dem Zelt. Ich hatte üble Alpträume gehabt und war froh, als Mary mich mit einem fröhlichen Schnaufen begrüßte. Wie jeden Morgen war die erste Handlung, ihr das Futter zu bringen und neues Wasser hinzustellen, oder sie zum Trinken zu führen. Ich wußte nie so ganz, ob ihr Wiehern uns oder der Pfanne mit den Pellets galt, aber es war mir an diesem Morgen auch egal. Mich hatte schon lange niemand mehr so schön begrüßt, und ich war sehr glücklich darüber. Ich blieb noch eine ganze Weile bei ihr und streichelte sie, während sie fraß. Sie mochte diese Streicheleinheiten sehr gern, und wenn es daran ging, sie zu bürsten, dann hörte sie sogar mit dem Fressen auf, um es zu genießen.
Ich hatte mich schon oft über sie geärgert, sie beschimpft und verflucht, aber noch öfter war sie unsere Rettung, unser Trost, unsere Freude und unser Freund gewesen. Sie stupste mich mit der Nase an, und ich umarmte ihren Hals. Wir waren zusammen durch dick und dünn gegangen, und als ich so eng umschlungen mit ihr dastand, wußte ich, daß ihr Schnauben und Wiehern an diesem Morgen mir gegolten hatte. Und ich war sehr, sehr dankbar darüber. Alex raschelte im Zelt, und schnell gingen wir beide wieder einen Schritt auseinander. Wir taten so, als wäre nichts geschehen. Helden weinen nicht.
So glorios die Reise auch begonnen hatte, mit der Entdeckung der Mine, dem Treffen von Achilles dem Schatzsucher, und dem Zeitungsartikel über uns, so sehr mußten wir jetzt dafür bezahlen. Doch waren es nicht die Schmerzen oder die Entbehrungen, die uns so fertig machten, es waren die vielen Enttäuschungen, die wir unterwegs einstecken mußten. Vieles waren wir selbst Schuld gewesen, wir waren häufig zu schlecht vorbereitet gewesen, hatten falsche Entscheidungen getroffen, unachtsam gehandelt, und uns zu oft von unserer Unerfahrenheit hinters Licht führen lassen. Aber wir hatten auch gekämpft und immer weiter geträumt, nie die Hoffnung verloren oder uns aufgegeben. Und wir hatten eines gelernt. Wir konnten uns wieder über ganz kleine Dinge freuen. All das, was uns in den letzen Wochen geschehen war, hatte uns gezeigt, das Glück und Erfolg niemals selbstverständlich sind, daß sie harter Arbeit erfordern. Je schlechter es uns ging, desto mehr wurde unser Augenmerk von all den tollen großen Sachen um uns herum auf uns selbst gelenkt. Wir waren dankbar darüber, wenn wir ein ganze Nacht schlafen konnten, und morgens ausgeruht aufstehen konnten. Wir waren glücklich, daß es unserem Pferd wieder so gut ging. Wir freuten uns darüber, wenn wir einen Tag schmerzfrei laufen konnten, denn all das war nicht selbstverständlich. Ist es nie.
Vielleicht hatte all das, was wir bis hierhin erlebt hatten einen Grund. Vielleicht war es für uns wichtig gewesen, zu dieser Erkenntnis zu kommen. Vielleicht waren wir ja nur hier, um einzusehen, wie großkotzig wir alles annahmen, ohne den wahren Wert zu erkennen. Vielleicht waren wir nur hier, um zu sehen, was wirklich wichtig ist.
Ich weiß nicht mehr, was uns dazu bewogen hat, so etwas zu denken oder einzusehen, von uns selbst zu sagen, daß wir vielleicht nicht so toll waren, wie wir uns selbst immer vorgestellt hatten. Aber ich weiß genau, daß es ab dem Moment, in dem wir all das erkannten, nur noch aufwärts mit uns ging. Hier war der Wendepunkt, auch wenn wir es noch nicht wußten.
Da es noch relativ früh am Morgen war, und es sich noch um Stunden handeln konnte, bis Karl kam - selbst dann, wenn er pünktlich kommen würde, was wir ehrlich gesagt nicht annahmen - nahm ich mir meine Goldpfanne und band Mary Lou los. Ich wollte den Weg wieder ein Stück weit hoch gehen, um dann an der alten Goldmine noch mal Gold zu waschen. Mary wollte ich mit mir nehmen, und sie an einer guten Stelle in meiner Nähe grasen lassen. Alex war damit einverstanden, allein im Lager zu bleiben. Er wollte in der Zwischenzeit schon mal unsere Ausrüstung umpacken und eine Liste davon machen, was wir noch hatten, und was uns fehlte. Ich war darüber sehr glücklich, und obwohl es mir ein wenig unangenehm war, ihn arbeiten zu lassen, während ich meinem Vergnügen nachging, lief ich los.
Und wieder packte mich das Goldfieber. Ich konnte es gar nicht erwarten, zur Mine zu kommen und dort nach Gold zu suchen. Und der Weg war so verflucht weit (20 Minuten können die Hölle sein!).
Nun, ehrlich gesagt habe ich es auch gar nicht bis zur Mine ausgehalten. Ich sah eine schöne Stelle mit viel Gras für Mary, sah den Creek daneben, band das Pferd so an, daß es für mindestens eine Stunde zu kauen hatte und hockte mich ans Wasser. Goldwaschen war eine meditative Konzentrationsübung für mich geworden. Das innere Gleichgewicht wiederfinden und so.  
Mary hatte eine gute Zeit mit all dem Gras, während sich bei mir am Creek schon wieder ein Donnerwetter zusammenbraute. Ich fand nämlich absolut nichts, was irgendwie nach Gold aussah. Meditation hin oder her, wenn man gar nichts findet, dann ist es auch irgendwie öde. Ich ging zurück zu Alex.
Karl kam pünktlich um eins mit seinem Dodge und dem riesigen, grün-verrosteten Pferdeanhänger durch die Büsche gefahren. Neben ihn saß Ralph, der neue Ehemann der Mutter von Kristen, Karls Freundin. Die beiden waren aus Conneticut zu Besuch nach Arizona gekommen. Schon kurz nach der Begrüßung konnten wir uns davon überzeugen, daß Ralph den Spitznamen „The Questionater“ (Der Fragensteller) völlig zurecht trug.
Er war ein gebildeter Mann, Finanzwirt und Steuerberater aus dem Osten, aber er stellte Fragen über Fragen. Und immer, wenn er mit jemandem sprach, sagte er zuerst dessen Namen. „Patrick, was machst Du denn so in Deutschland?“ oder „Alex, was hältst Du von der Wiedervereinigung?“ Sogar wenn man es schaffte, eine Gegenfrage zu stellen, dann antwortete er, in dem er zuerst einmal den Namen des Fragestellers nannte. „Patrick, ich liebe Arizona.“
Und was für ein Glück wir heute hatten! Karl und Ralph wollten zu einem etwas abseits der Wege liegenden Creek fahren und dort Gold waschen!
Da der Tag zum Laufen schon zu alt war, und ich sowieso nichts anderes als Goldwaschen im Sinn hatte, beluden wir schnell den Pickup mit unseren Sachen, stellten Mary hinten auf den Anhänger und sprangen selbst auf die Ladefläche, die wir uns mit Karls Hunden teilen mußten. Ralph war unheimlich nett, aber er hätte uns keine Ruhe gegeben, wenn einer von uns unten mit in der Kabine mitgefahren wäre. Er konnte wirklich die allerbesten Fragen stellen. Dabei war er aber nicht dumm, er stellte sehr gezielte Fragen, und er wußte über vieles Bescheid, was die genauen Fragen verrieten. Aber  spätestens nach der zwanzigsten Frage in Folge kommt man sich wie in einer Quizshow vor.
Wir rumpelten über ausgewaschene Pisten in einen Seitenarm des Peppersauce Canyon, setzten aber bald auf den immer schlechter werdenden Straßen mit dem Pferdeanhänger auf, so daß wir ihn abhängten und mit Mary am Zügel das letzte Stück zu Fuß gingen.
Wir banden sie an einem Stück mit gutem Gras an und holten unsere Pfannen heraus. Wenn uns jemand beobachtet hätte, ich glaube, er hätte laut gelacht. Vier erwachsene Männer, die mit Pfannen in der Hand am Wasser hocken und mit den Fingern im Dreck spielen. Alle paar Minuten schrie einer von uns „Gold!“, woraufhin alle anderen sofort angerannt kamen, stolz dem Vater des Babys auf die Schulter klopften und gratulierten, aber vor allem das Baby sehen wollten. Danach ging jeder wieder zu seiner Pfanne zurück, um noch verbissener zu waschen, bis der nächste Schrei ertönte. Sogar Ralph sagte erstaunlich wenig. Aber sein Schrei unterschied sich doch etwas von dem unseren: „Gold?“
Wir fanden kaum etwas, aber es war ein Riesenspaß. Die kleinen Goldkrümmelchen in der Pfanne waren so klein, daß man sie kaum mit der Messerspitze aufnehmen konnte, aber Karl erzählte davon, daß ein Mädchen vom YMCA in Oracle hier mal einen siebzig Dollar Nugget gefunden haben soll. Und für wirklich goldfiebernde Typen wie uns war das mehr als Grund genug, die ganze Gegend umzugraben.
Bernhard und Cassy spielten die ganze Zeit über mit ihren Stöcken, wobei sich ein großer Unterschied zwischen den beiden Hundegeschwistern auftat. So suchte Cassy ihre Stöcke immer selbst. Sie bevorzugte kleine Stöcke, die sie von uns gut geworfen aus der Luft schnappen konnte. Bernhard dagegen nahm mit dem Vorlieb, was man ihm bot. Kleine, große, dicke, dünne Stöcke, ganz egal. Hauptsache, er mußte sie sich nicht selbst besorgen. Aber sie mußten weit und schnell geworfen werden. Am besten über ein Hindernis oder ins Wasser. Dann pflegte er sich kopfüber in die Fluten zu stürzen und wild zu kraulen. Egal, wie kalt das Wasser war.
Er war schnell und mutig, aber irgendwie kam er mir ziemlich dumm vor, denn als wir ein paar Stunden später wieder zu Karl nach Hause fuhren, da lang er eng zwischen uns gekauert und vor Kälte zitternd im Heck des Pickups. Aus lauter Mitleid deckten wir ihn mit unseren Händen so ab, daß nicht so viel Wind an ihn kommen konnte, während die viel klügere (und trockene) Cassy mitten im Fahrtwind auf einem unserer Seesäcke stand und die Nase in die Luft steckte.
Bernhard hatte alles gegeben, und als wir endlich bei Karl angekommen waren, da schleppte er sich zu seinem alten Sessel und rührte sich den ganzen Abend keinen Zentimeter mehr. Auf eine merkwürdige Weise erinnerte er mich an mich selbst. Er wußte auch nicht, wann Schluß war.
Da Kristen und ihre Mutter immer noch beim Shoppen waren, tranken wir ein paar Biere und bereiteten dann schon mal das Abendessen vor. Ich fragte Karl, ob es ihm nichts ausmachen würde, daß wir bei diesem Familientreffen so einfach dabei sein würden, aber er war anscheinend froh darüber, nicht ganz mit seiner „Vielleicht-Famlienbande“ allein gelassen zu werden.
Um uns aber trotzdem nicht so ganz fehl am Platz fühlen zu müssen, bot ich mich an, mit Ralph zum Einkaufen in den Supermarkt zu fahren. Wenigstens ein wenig Bier wollte ich noch holen.
Abgesehen von seiner großstadterprobten Fahrweise, von der er auch in der Wüste Gebrauch machte - Überholmanöver wurden auch auf der völlig freien Straße Stoßstange an Stoßstange gefahren - hatte Ralph eine merkwürdige Art einzukaufen. Er nahm sich einen Einkaufswagen, postierte ihn an einer, seiner Meinung nach strategisch günstigen Stelle und rannte dann wie ein Wilder in alle Richtungen, um die auf der Liste stehenden Dinge zu besorgen. Dabei orientierte er sich natürlich durch gezielte Fragen.
Ich dagegen bevorzuge im Allgemeinen die Methode, bei der ich mich in Ruhe an den Regalen vorbei bewege und mir nehme, was ich brauche. Dabei kann es zwar vorkommen, daß ich mehr kaufe als auf dem Zettel steht, dafür vergesse ich selten etwas.
Bei Ralphs Methode war dieser Aspekt scheinbar nebensächlich, denn er rannte noch zweimal los und holte Sachen, die er vergessen hatte, als wir schon längst an der Kasse anstanden. Ich hatte das Gefühl, daß er nicht oft zum Einkaufen geschickt wurde.
Der Abend wurde recht lustig. Anne, die Mutter von Karls Freundin Kristen war eine feine Städterin aus dem Osten, und sie dachte gar nicht daran, das zu verstecken. Sie saß am Tisch in einem Holzhaus in einem winzig kleinen Nest in Arizona, nahe der mexikanischen Grenze, umgeben vom Wüste, Wüste und nochmals Wüste, und lobte Kristen für die Auswahl der Motive auf den Tellern. Es war ganz offensichtlich, daß sie eigentlich einen reichen Banker als Mann für ihre Tochter im Auge gehabt hatte, bevor dieser Cowboy daherkam, der Flaschen mit seinem Messer öffnete und Ralph das Goldpannen beigebracht hatte. Ralph war davon begeistert, Anne war schockiert. Aber sie war Dame genug und sehr nett, so daß das Essen in sehr angenehmer Atmosphäre verlief, und wir uns keineswegs ausgeschlossen vorkamen.
Karl und wir blieben noch lange nachdem die anderen längst ins Bett gegangen waren am Tisch sitzen, reparierten meinen aufgerissenen Schuh und redeten. Über Hippies und Blue Grass Music, über Jon Bon Jovi, der nur ein einfacher Eastcoast-Rocker sei, und die Rolling Stones, über Messer, Pferde, übers Angeln, Jagen, über Frauen, Bier und Indianer. Und natürlich über unseren Weg nach Tucson.
Karl kannte noch einen Weg, der direkt von seinem Haus aus über die Santa Catalina Mountains führen sollte. Allerdings sei dieser Weg viel zu schwierig und steil für ein Pferd, auch für eines wie Mary Lou. Der Weg würde drei Tage in Anspruch nehmen und über den Romero Pass durch den Sabino Canyon direkt nach Tucson führen. Das sei der letzte Weg außer dem Highway.
Alex und ich gingen zurück zu unserem Campingwagen. Wir dachten daran, daß wir all die Kilometer mit Mary Lou hinter uns gebracht hatten, und sie nun einfach zurücklassen mußten. Obwohl Mary ja rein gar nichts davon hatte, Tucson zu erreichen, hatten wir das Gefühl, daß wir ihr etwas vorenthielten, daß wir ihr den Triumph nahmen. Daß wir uns selbst den Triumph nahmen, das ganze Rudel, die ganze Herde, Meute, Schar, Bande, Horde, Rotte oder was auch immer nach Tucson gebracht zu haben. Es würde nur ein Teilerfolg sein. Klar, zu zweit und ohne Mary war die Möglichkeit, Tucson zu erreichen mehr als nur gewiss, aber es lag auch ein gewisses Scheitern in der Entscheidung, es allein zu versuchen. Wir würden den Weg ganz sicher schaffen, aber wir hatten uns immer vorgestellt, es mit unserem Pferd zu Ende zu bringen. Das Pferd gehörte zum Team, und es tat uns leid, sie zurück zu lassen. Nach all unseren Fehlschlägen war dies wohl der Schlimmste. Aber wir waren sicher, daß sie es bei Karl guthaben würde.
(weiter geht es mit Kapitel 6: Über die Pusch Ridge)

In der Ferne 1, Weltweit