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Kapitel 6


Kapitel 6: Über die Pusch Ridge

Am nächsten Morgen war allerdings von Aufbruchsstimmung nicht viel zu spüren. Wir standen gegen halb acht auf und frühstückten gerade, als Karl seinen Kopf in den Hänger steckte und uns fragte, ob wir mit ihm zu einem Kunden fahren wollten, dem er ein Pferd beschlagen sollte. Auf dem Rückweg wollte er uns dann den Saguaro National Park zeigen, ein Hochtal, in dem man die Saguaro Kakteen unter Schutz gestellt hat. Klar, wir wollten mit.
Karls Zeitgefühl ließ arg zu wünschen übrig, denn aus den versprochenen zwanzig Minuten bis zu Tom Müller, dem Kunden, wurden ziemlich schnell vierzig.
Tom wohnte in einer billigen Holzbautensiedlung ohne feste Straße. Die Kinder der Nachbarschaft sahen ziemlich verwahrlost aus, und überall standen alte ausgeschlachtete Autowracks herum. Die Landschaft war über Kilometer völlig von der platzraubenden Bauweise der Amerikaner zersiedelt und absolut hässlich. Die Häuser waren heruntergekommen und vernachlässigt, und alle Farben waren durch die harte Sonne völlig verblichen. Telephon- und Stromkabel waren oberirdisch verlegt und gaben ihren Beitrag zur Entstelltheit des Ortes ab.
Tom Müller war ein unförmig aussehender aber nicht unsympathischer Cop aus Tucson. Er ritt in seiner Freizeit und hatte einen hübschen grauen Wallach, der sich in der letzten Nacht wohl ein Hufeisen abgerissen hatte. Karl packte seine mobile Schmiede aus seinem Pickup und befestigte das Eisen neu. Wir unterhielten uns mit Tom über seine Arbeit als Cop und sein zweites Hobby, dem Restaurieren alter VW Scirrocos, von denen er zwei im Garten stehen hatte. Ganz beiläufig erklärte er, daß seine Mutter aus Wuppertal stamme, der Stadt, in der auch Alex und ich groß geworden waren. Was für ein Zufall! Er kannte sogar die Schwebebahn! Wow!
Auf dem Rückweg fuhren wir tatsächlich durch das Saguaro National Monument. Aber es war nicht so besonders, wie ich es mir vorgestellt hatte. Saguaros hatte ich schon seit vier Wochen genug gesehen und gespürt, und ich hatte möglicherweise zuviel erwartet. Ich hatte zu hohe Ansprüche an einen Platz gestellt, den man wegen seiner ausgesprochenen Schönheit zum National Park erklärte, und ich wurde enttäuscht. Das hier hatte ich schon hundertmal besser gesehen. Wahrscheinlich hatte man dieses Gebiet zum National Park erklärt, weil eine Straße hindurchführte. Wie sollte ein Amerikaner auch sonst in den Genuß des Parks kommen, wenn nicht vom Auto aus?
Aber ich wollte Karl nicht enttäuschen, ja, ich bat ihn sogar, kurz anzuhalten, damit ich vom Dach seines Dodges aus ein paar Fotos schießen konnte. Und Zuhause in Deutschland gefielen mir die Bilder komischerweise besser als die aus der Wüste. Naja, fast.
Wir waren gerade wieder bei Karl angekommen und packten unsere Sachen, da kamen auch Anne und Ralph wieder angefahren. Anne wollte mit Kristen heute noch einen „Girlie-Day“ machen, und so hatte Karl die Aufgabe erhalten, mit Ralph reiten zu gehen.
Wir verabschiedeten uns herzlich von allen und wurden dann mit einem komischen Gefühl im Magen von Karl und Ralph zum Romero Pass Trailhead gefahren, von wo aus uns unser Weg über die Santa Catalina Mountains fuhren sollte.
Die Sonne stand schon hoch, und es war extrem warm an diesem Tag, doch das Laufen fiel uns trotzdem leicht. Aber Mary Lou fehlte uns sehr. Wie sehr war ich dieses ewige: „Mary, easy!“ und „Mary, stay!“ satt gewesen, und wie sehr vermisste ich es jetzt. Die Rucksäcke waren etwas schwerer geworden, aber trotzdem hatten wir nur das Nötigste dabei. Wir waren mit mehr als zweihundert Kilo Gepäck in Apache Junction losgelaufen, und wir würden Tucson mit weniger als dreißig Kilo erreichen. Nur, irgendwie fühlte es sich gar nicht so leicht an. Vor allem nicht im Herzen.
Auf den ersten Kilometern des Weges kamen uns viele Ausflügler mit leichtem Gepäck entgegen, je weiter wir uns jedoch vom Parkplatz des Trailheads entfernten, desto einsamer wurde die Bergwelt. Und das war auch gut so, denn das Steigen war so aufregend, daß der Kontakt zu anderen Leuten nur gestört hätte.
So liefen wir also allein über den felsigen Trail, der sich an steilen Abgründen, über riesige Gesteinsbrocken zum Pass hinauf schlängelte, und sich dabei manchmal so stark verengte, daß wir kaum mit unseren Rucksäcken zwischen der großen Felsbrocken hindurch passten. Wir stiegen immer höher, sahen die Sonne über der Wüste scheinen und spürten ihre Hitze. Man merkte langsam, daß der Winter vorüber war, und sich der Sommer näherte. Unsere Welt bestand nur noch aus dem Beige der Steine, dem tiefen Blau des Himmels und dem Grün der Pflanzen. Ab und zu hatte sich schon eine vorwitzige Blume entschlossen, dem Sommer ein Stück entgegen zu kommen.
Die Berge waren rau und zerklüftet, stark gezackt, und ihre Gipfel schnitten sich scharf in den Himmel. Die Luft war ungewöhnlich klar, nur wenn man zurück sah, erkannte man eine staubige Dunstschicht über der Wüste. Die Wüste sah aus wie eine Pfanne, und ich war mir sicher, daß man im Sommer darin gebraten werden würde.
Irgendwann erreichten wir die Baumgrenze. Witzig daran war nur, daß es im Gegensatz zu den Gebirgen Europas, wo mit zunehmender Höhe der Baumbestand lichter wird, es hier mit zunehmender Höhe erst Bäume gibt. Die klimatischen Bedingungen, die so große Pflanzen wie Bäume nun einmal forderten, waren in der Ebene nicht gegeben, und traten erst mit der Höhe ein. So kam es, daß sich eine schmale Baumschicht rings um alle Berge gelegt hatte, an denen die Lage Bewuchs zuließ. Etwas komisch kamen wir uns schon vor, aber die Bäume spendeten herrlichen Schatten und eine wohlverdiente Abkühlung nach der Hitze des Steigens. Es war ein gutes Gefühl, sich nach einer so langen Zeit des Ausgesetztseins in der Sonne, in die dunkle Höhle des Waldes verkriechen zu können.
Hier floss auch ein lebhaft gurgelnder Fluß, der sich über große, ausgewaschene Felsen ins Tal stürzte. Wir überquerten ihn mehrmals und waren immer mehr der Meinung, daß wir richtig gehandelt hatten, als wir Mary Lou zurückgelassen hatten. Es wäre für sie unmöglich gewesen, hier entlang zu laufen. Neben den schon besagten engen Felsformationen, lagen ständig umgestürzte Bäume im Weg, über die wir entweder klettern mußten, oder unter denen wir uns hindurch quetschen mußten.
Wir stiegen nach Erreichen des Waldes noch etwa eine Stunde und fanden dann einen himmlisch schönen Platz für die Nacht.
Es war eine kleine Lichtung im Wald und so klein, daß sich die Äste der Bäume fast darüber berührten. Aber nur fast. Man konnte den Himmel sehen, aber man fühlte sich doch wie unter einem Dach. Ein paar Steine boten eine gute Stelle für unser Lagerfeuer und der Fluß toste etwas entfernt laut zwischen den Steinen. Ich weiß nicht wie es kam, aber beim Lagerbau unterhielten wir uns die ganze Zeit über Wohnungseinrichtungen.
Da es am Tag ziemlich warm gewesen war, und wir beim Bergaufgehen richtig geschwitzt hatten, entschlossen wir uns, ein cooles Bad im Fluß zu nehmen und watschelten mit nackten Füßen, das Handtuch über der Schulter und das Waschzeug in der Hand zum Wasser. Wir hatten wieder ein paar Töpfe mitgenommen, mit denen wir das Wasser zum Abspülen der Öko – Seife schöpfen wollten.
Als ich den großen Zeh zum Testen der Wassertemperatur in den Fluß steckte, da wußte ich, daß das nun folgende kein Spaß werden würde. Normalerweise machten wir immer einen Wettbewerb daraus, wer sich am längsten ins kalte Wasser traute, aber heute nicht. Himmel, ich habe noch nie im Leben so kaltes Wasser gespürt! Es war Schmelzwasser, und ich war mir sicher, daß nur die Fließbewegung den Fluß davon abhielt, wieder zu Eis zu erstarren.
Ich versuchte, mich ins Wasser zu stellen, um mich dann mit dem Topf naß zu machen, aber das Wasser war so kalt, daß ich nicht einmal darin stehen konnte, so schmerzte es an den Füßen. Ich stellte mich also breitbeinig auf zwei Steine, die aus dem Fluß ragten und tauchte dann den Topf ein.
Den ersten Schwall Wasser schüttete ich mir über die Beine. Ich gebe zu, daß ich danach versucht war, das Waschen für heute sein zu lassen, aber ich sah Alex höhnisch grinsen. Also tauchte ich den Topf wieder ein und schüttete ihn mir forsch über den Kopf.
Ich weiß nicht mehr, was ich geschrieen habe, ich weiß nur noch, daß es laut war. Mein Kopf schmerzte so sehr vor Kälte, daß ich fast das Gleichgewicht verlor. Panisch sprang ich ans Ufer, und versuchte, vor dem Schmerz wegzulaufen. Ich hüpfte wie ein Irrer umher. Schließlich grabschte ich mir mein Handtuch, wickelte es mir um den Kopf und setzte mich, mit den Armen den Kopf umschlingend auf einen Stein. Im meinem ganzen Leben habe ich noch nicht so kaltes Wasser gespürt. Der Schmerz verschwand langsam, aber ich hatte das Gefühl, daß er das nur tat, weil er meine Nerven bereits aufgefressen hatte. Nach etwa fünf Minuten nahm ich mir den Topf wieder in die Hand und ging zurück zum Wasser. Niemand sollte sich heute über mich lustig machen können.
Als ich bei Einbruch der Dämmerung frisch gewaschen am Feuer saß, prickelte meine Haut wie wild. Ich fühlte mich ziemlich gut, fast so, wie nach einem guten Saunagang mit Abkühlung im Eisbecken. Wir kochten in aller Ruhe und sprachen über Mary Lou. Karl hatte uns versprochen, nach unserer Rückkehr aus Tucson, mit uns Ausreiten zu gehen, um uns zu der Stelle zu führen, an der er die indianische Pottery gefunden hatte. Alex sollte Mary Lou reiten, während ich eines seiner Pferde bekommen sollte. Daran, wie sehr Alex sich darauf freute, konnte ich sehen, wie er unsere gute Mary vermisste. Und ich tat es auch. Wenn wir in zwei Tagen tatsächlich Tucson erreichen sollten, dann wollten wir diesen Erfolg unserem Pferd widmen. Ein wenig verloren schliefen wir ein.

Im Rückblick kann ich eines mit Fug und Recht über unsere Tour sagen. Immer, wenn wir uns auf eine besondere Art selbst gelobt hatten, oder unsere Taten überheblich belächelten, dann folgte sofort etwas, das uns unseren Glauben an unsere Unverwundbarkeit wieder nahm. An diesem Morgen war es die Tatsache, daß wir unseren Wecker bei Karl vergessen hatten und erst gegen neun aus dem Zelt wankten. Die Sonne stand schon hoch, und wir dachten mit Grauen an die Hitze, die uns bei unserem Aufstieg zum Pass wohl braten würde, beeilen taten wir uns aber komischerweise trotzdem nicht. Wir dachten die ganze Zeit, daß wir, ohne das Pferd versorgen zu müssen, sowieso schneller sein würden unser Lager abzubrechen, aber das war wohl eine Täuschung. Erst gegen elf begannen wir mit dem letzten großen Aufstieg zum letzten großen Hindernis vor Tucson. Dem Romero Pass.
Die Sonne stieg mit uns immer höher, und als sie ihre höchste Stelle erreicht hatte, waren wir auch oben angekommen. Es war eine Hitzeschlacht gewesen.
Wir mußten ordentlich die Hälse recken, um über die Büsche hinweg sehen zu können, die uns hier oben die Aussicht versperrten. Wir zwängten uns durch einige verkrüppelte kleine Kieferngewächse bis dicht an den nächsten Abgrund und ließen unseren Blick von der Weite entführen, die sich auf der anderen Seite des Passes bot. Bisher hatten wir immer nur zurück über die Wüste gucken können, aber jetzt zeigte sich ein völlig neues Bild. Steil ging der Hang ins Tal hinab, und unten konnten wir schon das Glitzern eines Baches durch die Baumkronen sehen.
Die Berge, die wir sahen, waren rau, teilweise mit Bäumen und Büschen bewachsen, zwischen denen noch Reste von Schnee lagen. Man sah kein einziges Zeichen von Menschen, und wir fühlten uns grandios einsam. Grizzly Adams, der Mann aus den Bergen hätte hier Zuhause sein können. Es war ein so wilder Blick, daß wir eigentlich nur darauf warteten, daß ein Puma oder ein Bär durchs Bild lief, um die unwirkliche Natürlichkeit der Szene zu vervollkommnen. Ein perfektes Panorama.
Als wir den Pass danach überschritten, und er uns den Blick zurück über die Weite der Wüste versperrte, waren wir völlig von der Bergwelt umgeben. Wir waren mitten drin. Die Luft war heiß und die Sonne brannte auf unserer Haut, so daß wir froh waren, den Paß auf der anderen Seite wieder herunter laufen, und uns in den Schutz der Bäume verziehen zu können. Im Schatten des Waldes fanden wir tatsächlich einen kleinen Bach, dessen kaltes Wasser unsere heißgelaufenen Muskeln kühlte.
Wir waren so gut gelaunt wie schon ewig nicht mehr. Die Sonnenstrahlen, die es schafften, durch die dichte Baumkrone hindurch zu strahlen, spiegelten sich auf den kleinen Wellen des Baches und ließen die vielen kleinen Pyridstückchen, die man auch Foolsgold oder Katzengold nennt, verführerisch funkeln. Die Luft war voller Insekten, die wild durcheinander brummten. Bienen und Schmetterlinge waren auf der Suche nach Nektar und ein paar Mücken versuchten an unser Blut zu gelangen. Ein kleiner Vogel sauste halsbrecherisch durchs Gestrüpp und holte sich ein paar der Blutsauger. Ein wahres Paradies bot sich uns dar.
Der Weg von hier aus wies keine großen Höhenunterschiede mehr auf. Ohne große Anstrengungen schlenderten wir am Ufer des Baches entlang, überquerten ihn einige Male, wichen stacheligen Büschen aus und kletterten über umgestürzte Bäume.
Bald darauf verließen wir allerdings wieder den Wald und stiefelten an etwas steiler werdenden Hängen entlang, an denen nur noch vereinzelt größere Pflanzen standen. Daß wir wieder näher an die Zivilisation kamen, merkten wir daran, daß die Wege wieder ausgetretener wurden und auch besser gepflegt. Bei einigen Serpentinen hatte man sogar kleine Mauern errichtet, um den Trails besseren Halt am Hang zu sichern. Es sah fast wie in einem italienischen Bergbauerndorf aus, bei dem die Steine, die man vom Feld aufgesammelt hatte dazu verwendet wurden, eine Mauer um das Feld zu errichten. Völlig verzaubert von der plötzlichen Sanftheit der Natur machten wir eine lange und müßige Pause am Bach, ließen kleine Stöckchen als Boote durch winzige Katarakte und Stromschnellen gleiten und dösten in der Sonne.
Nur kurz will ich hier berichten, daß Karl uns Angelschnüre und Haken mitgegeben hatte, und wir am Hutch’s Pool versuchten, Fische zu fangen. Ich will es deshalb nur kurz erzählen, weil es am Hutch’s Pool gar keine Fische gibt, und wir atemberaubender Weise natürlich auch keine gefangen haben. Es ist mir viel zu peinlich, Ihnen davon zu erzählen, also vergessen Sie es einfach wieder, okay?
Erst um halb sechs, nachdem wir noch durch ein wunderschönes Tal mit braunen, trockenen Präriegras gezogen waren, bauten wir unser Lager an der Kreuzung des West Fork Trails mit dem Sabino Trail auf, dem wir schon morgen nach Tucson folgen wollten. Der Platz war wunderschön, genau angemessen für den letzten Abend unserer Tour. Etwas erhöht über einen kräftig sprudelndem Creek bot sich eine mit Büschen umrahmte Wiese geradezu zum Campen an. Ein großer Baum spendete Schatten und machte die Atmosphäre perfekt. Wir waren mehr als zufrieden.
Bei einem feisten Abendessen ließen wir unsere Erlebnisse auf der Tour noch einmal Revuepassieren. Wir machten immer nur Andeutungen, wie etwa: „Weißt du noch, als Mary den Kaktus in der Nase hatte, und Du ihn danach in der Hand?“ oder „Weißt du noch, als Mary Dir volle Kanne auf den Fuß getreten ist, und du stay mit sch geschrieen hast?“. Es dauerte über zwei Stunden, bis wir fertig waren. Es war ein großes kleines Fest, und die Gästeliste war in höchstem Maße elitär. Zur Feier des Tages gab es tonnenweise Cookies, eine Last, die wir bis jetzt gern getragen hatten, und heiße Milch aus Milchpulver und entkeimtem Wasser mit längst aus den Glas gelaufenem und verschmiertem Honig. Wir hatten alles, was das Herz begehren konnte. Nur nicht unsere Mary Lou.


In der Ferne 1, Weltweit