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Kapitel 8


Kapitel 8: Das Dry Creek Race 1998

Der Radiowecker spielte mein Lieblingslied, die Sonne schien durchs Fenster und Karls Hund Bernhard leckte mir übers Gesicht. Was für ein glorreicher Morgen vor einen noch glorreicheren Tag! Nur leider hatte ich nicht ausgeschlafen, Kopfschmerzen vom Bier und mein Arm war eingeschlafen. Außerdem wußte ich nichts davon, daß ich den Radiowecker auf irgendeine Uhrzeit eingestellt hatte, und machte mir Sorgen um die Tafel Schokolade, die ich gestern hier offen hatte rumliegen lassen. Bernhards Zunge klebte so komisch.
„Hä...? Oh, Scheiße, Bernhard, was willst Du?“ Wie war er überhaupt hier hereingekommen?
Dann war alles klar. Alex stand schon abmarschbereit im Wohnwagen und machte gerade Anstalten, mir ein nasses Handtuch ins Gesicht zu klatschen. Er konnte es kaum erwarten, endlich mit Mary durch die Berge zu reiten. Ich rappelte mich schlaftrunken auf.
Als wir Karls Wohnung betraten, sahen wir ihn in einer ähnlichen Verfassung, wie ich sie soeben bei mir geschildert habe. Wir schütteten uns jeder einen Liter Kaffee in den Rachen und gingen dann zu den Pferden.
Die Sonne strahlte eine Helligkeit vom wolkenlosen Himmel, die in den Augen wehtat, auch wenn man keinen Kater hatte. Ihr gleißendes Licht war ungewöhnlich intensiv heute. Dazu wehte ein starker Wind, der immer wieder kleinere Windteufel über die offenen Flächen jagte. Manchmal mußten wir uns umdrehen und unsere Gesichter mit der Krempe unserer Hüte verdecken, um dem Sand in der Luft zu entgehen. Aber Karl meinte, daß es oben im Gebirge besser sein würde. Aber er meinte auch, daß das Wetter wohl nicht mehr lange halten würde. Also machten wir uns daran, die Pferde zu satteln.
Wie gesagt sollte Alex heute unsere Mary Lou reiten. Da ich etwas größer bin als Alex und Mary für mich zu klein war, sollte ich Karls Pferd Stormy (deutsch: stürmisch!) reiten.
Stormy war ein echtes Quarterhorse. Er war dreizehn Jahre alt, hatte einen breiten Brustkorb und starke Hinterbeine. Er war ein Apfelschimmel und sein Name eine Vorspiegelung falscher Tatsachen. Müde schaute er mich an, als ich ihm seinen Sattel auflegte. Er war gesund und kräftig, aber Bock hatte er keinen, das sah man sofort.



Obwohl Mary Lou so klein war, daß wir anfangs Probleme hatten, einen Reitsattel mit dem passenden Bauchgurt für sie zu finden, machte sie den Größenunterschied zu Stormy durch ihre damenhaft aufrechte Körperhaltung wett. Stormy war gute zwanzig Zentimeter höher, aber er ließ seinen Kopf so lustlos hängen, daß man ihn neben Mary für einen Ackergaul gehalten hätte. Aber er hatte gute Muskeln und als wir losritten, setzte er sich wie eine Dampfmaschine in Bewegung.
Wir ritten zuerst durch das Gebiet des State Parks in Richtung des Gebirgszuges der Pusch Ridge  und schwenkten bald etwas nach Osten und folgten einigen kleinen Trails, die sich eng zwischen den Dornbüschen und Kakteen langsam bergan zogen. Wir ritten eine gute Stunde und Karl machte uns immer wieder auf Tierspuren aufmerksam. Er als Jäger achtete besonders darauf, und einmal wollte er aus einer Spur sogar lesen können, daß ein männlicher Weißwedelhirsch einem weiblichen hinterhergelaufen sei, und die beiden Männchen und Weibchen miteinander gespielt hatten. Wir folgten den Spuren und ritten ein paar mal im Kreis, so daß auch Alex und ich zu der Ansicht kamen, daß es sich bei den beiden nicht um normal ziehende Tiere gehandelt haben konnte. Ich war beeindruckt.
Karl zeigte auf Vögel, nannte uns ihre englischen und teilweise indianischen Namen und erzählte uns, was er über sie wußte. Zuerst erzählte er aus der Sicht eines Jägers, merkte aber bald, daß wir dem gegenüber eine gewisse Abneigung hatten und geriet schließlich über die Schönheit des Wilden Truthahns ins Schwärmen.
Karl führte uns zu einen kleinen Bach und wir banden die Pferde so an, daß sie gut trinken konnten. Wir selbst folgten dem Bach ein wenig flussabwärts und erreichten bald eine Stelle, an der sich seine beiden Ufer stark verengten, und das Wasser nur noch durch eine schmale Rinne über blanken Fels floss. Rechts und links des Ufers waren die Felswände über Kopf hoch. Das Wasser hatte sich hier eine natürliche Rutsche in den Fels gewaschen, und es sah aus wie eine Bobbahn im Sommer.
Wir folgten dem Wasser noch ein wenig weiter und mußten dann neben einem Wasserfall in einen winzig kleinen Talkesseln absteigen, in dem der Bach einen kleinen, etwa drei mal drei Meter messenden See gebildet hatte. Neben dem See waren ein winziges Stückchen Wiese und ein Baum. Der See entwässerte sich gegenüberliegend zum ersten Wasserfall mit einem zweiten nach Süden hin, der so steil abfiel, daß wir nicht weiter gehen konnten, und der Bach tief unter uns zwischen den Felsen verschwand. Aber Karl wollte eh nicht weiter. Er wollte uns diese Stelle zeigen. Und wir wollten auch nicht weiter. Der versteckte Platz hatte uns schon durch seine Herrlichkeit gefangen genommen. Er hieß Paradise Point. Paradiesischer Punkt. Und er war auf keiner Karte eingezeichnet.
Wir standen da und wollten unseren Augen nicht trauen. Der Ort war märchenhaft schön. Kristallklares Wasser sprang die Felsen hinab, und die Sonnenstrahlen verfingen sich in den Blättern des Baumes. In den Ritzen der Felsen wuchsen Blumen und winzige Kakteen, und das Gras war weich und kräftig. Der starke Wind von den Ebenen war hier nur ein Lüftchen und der Blick auf die Wüste verlor sich in der Weite. Wir blieben fast zwei Stunden.
Kurz nachdem wir unsere Pferde wieder erreicht hatten und aufgebrochen waren, verlor Mary Lou ein Hufeisen. Karl machte sich sofort daran, es mit primitiven Hilfsmitteln wieder in Ordnung zu bringen, während er zu mir sagte, daß ich ja schon mal nach Tonscherben suchen könne. Ich tat ihm widerwillig den Gefallen, stieg ab und ging leicht gebeugt, Stormy am Zügel führend, suchend umher. Ich dachte, daß er das nur gesagt haben konnte, um mich zu beschäftigen, damit ich nicht so ungeduldig drängeln würde, während er das Hufeisen reparierte. Ich kam mir leicht verschaukelt vor, denn das Gebiet hier sah genau so aus, wie alles andere vorher auch, es gab nicht den geringsten Hinweis auf Indianer, aber dann sah ich es: Ein kleines Stück Tonscherbe lag zur Hälfte in der Erde eingegraben vor meinen Füßen! Eine echte, vielleicht fünfhundert Jahre alte Tonscherbe! Sie war sogar bemalt!
Vor Schreck ließ ich Stormy‘s Zügel los. Natürlich war Stormy nicht im geringsten an meinem Fund interessiert und trollte sich. Ich ließ ihn laufen und fiel auf die Knie. Vorsichtig schabte ich den Schmutz beiseite und hielt kurz darauf das Tonstückchen in der Hand. Es war nur ungefähr zwei mal zwei Zentimeter groß, sandfarben und hatte rote Striche auf der einen Seite. Unglaublich! Meine staubigen Finger zitterten, und der Wind trieb Sand in meine Augen. Ich blinzelte und wischte mir ungeschickt übers Gesicht, wobei mir prompt das Stückchen aus der Hand fiel. Was ich doch für ein Hornochse war! Mr. Tolpatsch höchstpersönlich. Schnell schaute ich mich um, ob die anderen etwas von meinem Missgeschick mitbekommen hatten, aber sie arbeiteten immer noch in einiger Entfernung an Marys Huf. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, ich hätte ein intaktes Gefäß gefunden und hingeschmissen!
Ich hob das Stückchen Tonscherbe wieder auf, dem Gott sei Dank durch den Sturz nichts passiert war und nahm es fest in die Hand. Ich konnte mein Glück nicht fassen! Ich fing Stormy wieder ein, der in der Nähe graste und rannte zurück zu den anderen.
Karl hatte in der Zwischenzeit Marys Huf wieder in Ordnung gebracht und begutachtete jetzt meinen Fund. Nicht schlecht meinte er, aber er wollte noch zu einer Stelle, an der es mehr zu finden gab. Nichts wie hin!
Ich heftete beim Weiterritt meine Augen an den Erdboden und verlor dadurch schon bald jegliche Orientierung. So wußte ich auch nicht, wo wir waren, als Karl uns eine kleine, in einen Felsbrocken eingeritzte Sonne zeigte. Ein altes Symbol bei den Hohokam, das aus zwei unterschiedlich großen Kreisen und den abstehenden Strahlen bestand.
Ich wußte nicht mehr, wie lange wir schon wieder ritten, als Karl plötzlich absteigen ließ. Wir waren auf einem langgezogenen Hügelrücken angekommen. Ich hatte unterwegs noch drei weitere Stücke gefunden, dreimal mein Pferd einfangen müssen, und ich wußte nicht mehr, wo wir waren.
„Hier müsst ihr suchen!“
Der Boden lag tatsächlich voller Tonscherben! Wahrscheinlich war das hier mal ein alter Müllplatz der Indianer gewesen, schätzte ich, weil ich mir nicht vorstellen konnte, wie soviel von dem Zeug auf einen Haufen kommen konnte. Wenn man eine explodierte Töpferei mal ausschloss.
Wir banden die Pferde an und begannen zu suchen. Alex war wild auf eine Pfeilspitze, aber er konnte nichts finden. Ich wollte bemalte Tonscherben, und ich fand sie. Zwar war die Zahl der unbemalten Stücke sehr viel höher, aber es waren auch besondere Stücke dabei, wie zum Beispiel Teile von Gefäßrändern, oder einfach besonders große Stücke. Auch die wollte ich natürlich nicht verschmähen.
Karl hatte schon genug Tonscherben bei sich zu Hause, und so wollte er nach anderen Teilen suchen. Und tatsächlich fand er einen halben Handmühlstein, mit dem die indianischen Frauen früher das Getreide gemahlen hatten. Er war etwa in der Mitte durchgebrochen, was meine These vom Müllplatz untermauerte. Aber auch einen Mühlstein hatte Karl schon, und so schenkte er ihn mir.
Ich hielt den Stein in der Hand und versuchte mir vorzustellen, daß der letzte Mensch, der diesen Mühlstein in der Hand gehalten hatte, eine vergessene Indianerin vom ausgestorbenen Stamm der Hohokam war. Niemand weiß mehr, wer sie gewesen ist. Niemand kennt mehr ihren Namen. Sie ist vergessen, als hätte sie nie gelebt. Wie alt mag sie geworden sein? Ob sie glücklich gewesen ist? Ich würde es nie erfahren. Ich fand das so traurig, daß ich Schuldgefühle bekam.
Beim Nachhauseritt versuchte ich verzweifelt, mir die Stelle zu merken, an der wir all die herrlichen Sachen gefunden hatten, aber schon bald gab ich es auf. Ich hatte genug. Mehr als mir zustand.
Aber der Tag war noch nicht zu Ende. Wir trabten nebeneinander durch einen ausgetrockneten Flusslauf, saßen lässig wie echte Cowboys auf unseren Pferden, hatten die Taschen voller Beute, und Karls Hunde liefen um uns herum. So hatte ich mich in meinen Träumen immer durch die Wüste reiten sehen. Für mich war dies der Inbegriff des Lebens, wie ich es mir vorstellte. Frei, ohne Zäune, mit Freunden und Tieren und unermesslich viel Platz. Die Arbeit bestand nur daraus, durch die Welt zu ziehen, und etwas zu suchen. Was war egal. Ich wäre glücklich dabei. Ich begann, vor mich hin zu träumen.
Dann aber schien Karl, der unseren Reitstil immer wieder kritisch beäugt hatte, genug gesehen zu haben. Er zügelte sein Pferd, drehte und grinste uns an. Er hielt immer noch ein Highlight zurück.
„Hey, Cowboys, kleines Rennen gefällig?“
Ich konnte nicht glauben, was ich da zwischen ein paar Traumfetzen gehört hatte, und Alex schien überhaupt nichts mitbekommen zu haben.
Karl deutete auf eine einzeln stehende Baugruppe etwa 200 Meter entfernt.
„Los!“ Und das Rennen war eröffnet.
Was nun folgte, kann ich fast nicht mehr beschreiben. Es war die Krönung unseres Trips durch die Wüste. Es war der absolute Höhepunkt der Tour. Es dauerte nur ein paar Sekunden, nichts im Vergleich zu der langen Zeit, die wir schon hier waren, aber wenn ich Alex heute nach unserem Rennen in der Wüste frage, bekommt er immer noch leuchtende Augen und einen völlig entrückten Blick. Es war einmalig gewesen, und wenn ich mich daran erinnere, dann kommt es mir vor, als hätte ich es nur geträumt.
Mary Lou, die kleine weiße Araberstute, die wir trotz ihres hohen Alters von 30 Jahren noch auf diesen Trip mitgenommen hatten, und die uns mehr als nur eine Hilfe gewesen war, hatte uns fast jeden Tag mit ihrer Erfahrung und ihrem Können überrascht. Für mich war sie zum Kultobjekt geworden, zur lebenden Legende. Und heute wollte sie sich unsterblich machen. Sie war eine echte Diva. Wer sie nicht kannte, der wußte nichts vom Leben.
Ich sah Karl, wie er seinem Pferd die Sporen gab und es antrieb. Die Hinterhufe seines Pferdes stemmten sich in den festen Sand und katapultierten es nach vorn. Mit einem riesigen Satz aus dem Stand galoppierte Karl davon.
Ich riss Stormy entschlossen am Zügel herum und trat ihn in die Seiten, um ihn anzutreiben. Das Pferd merkte, daß es mir diesmal wirklich ernst war und setzte sich aus der Drehung in Bewegung. Ich spürte zum ersten mal seine ganze Kraft und wurde überrascht nach hinten geworfen. Stormy‘s Muskeln traten unter seinem Fell deutlich hervor, und er gab richtig Gummi. Ich fing mich wieder und umklammerte ihn fest mit meinen Beinen.
Stormy beschleunigte wie ein D-Zug. Wuchtig trat er an, und mit jedem seiner Schritte brachte er mehr Kraft und Energie auf den Boden. Mit jedem Schritt wurde er schneller und schneller.  
Stormy war ein Quarterhorse. Er war ein Mitglied der einzigen Pferderasse, die aus dem Stand angaloppieren kann. Das, und ihr vielgerühmter „Cowsense“ machen diese Pferde zu einer der beliebtesten Rassen bei den hart arbeitenden Cowboys. Die Pferde sollen über ein Gespür für das Verhalten von Hornvieh verfügen, und deshalb besonders geeignet sein, die Arbeit der Cowboys entscheidend zu erleichtern. Ihre Kraft und ihr unglaublicher Mut zeichnen sie aus. Es gibt wenige Pferde, die es sich zutrauen, vor einem ausgewachsenen Longhornbullen auf und ab zu reiten, um ihn in die richtige Richtung zu treiben. Aber für ein echtes Quarterhorse geht es erst richtig los, wenn sich 30 000 Stück Vieh auf einer wilden Stampede in Richtung Lager befinden. Ein Grund mit dem Kauen aufzuhören, mehr nicht. Vielleicht war Stormy ja auch nur chronisch unterbeschäftigt und deshalb so lethargisch. Jetzt aber wachte er auf.
Ich erinnere mich noch daran, daß ich vor lauter Freude etwas geschrieen habe, aber ich weiß nicht mehr was. Ich befand mich im besten Rausch meines Lebens. Die Droge hieß Geschwindigkeit, und sie machte beim ersten Gebrauch süchtig. Ich hielt die Zügel fest in der einen Hand und benutzte das lose Ende der Zügel mit der anderen Hand als Peitsche. Es konnte gar nicht schnell genug sein.
Stormy‘s Bewegungen wurden allmählich gleichmäßiger, was bedeutete, daß er fast Endgeschwindigkeit erreicht hatte, und seine Schritte waren weit und raumnehmend. Sein Kopf bewegte sich kraftvoll auf und ab um Schwung zu holen, aber sein Körper hatte einen guten Rhythmus gefunden. Er streckte seinen Hals nach vorn und forderte mehr Zügel, und ich gab sie ihm. Ruhig saß ich auf seinem Rücken und wir glitten durch eine Welt aus Streifen. Die Landschaft flog nur so an uns vorbei. Noch nie im Leben war ich so schnell geritten. Und doch war es, als ob ich nie etwas anderes getan hätte.
Karl war immer noch weit vor mir, aber der Abstand zu ihm sank. Er wirbelte eine Menge Staub auf, und je näher ich kam, desto mehr Steine, die von den Hufen seines Pferdes hochgeworfen wurden trafen mich. Ich kniff die Augen zusammen und beugte mich tiefer über mein Pferd. Schneller! Wieder schrie ich irgend etwas, von dem ich nicht mehr weiß, was es war, und wieder beschleunigte Stormy noch ein wenig.
Eigentlich ging dieser Ritt weit über meine reiterlichen Fähigkeiten hinaus, ehrlich gesagt hätte ich schon längst den Boden küssen müssen. Aber genau das Gegenteil war der Fall: ich saß völlig sicher auf dem Rücken des rasenden Pferdes und freute mich wie selten über mein Leben. Mein Kopf war so voller Glücksgefühle, daß ich nicht an das denken konnte, was ich gerade tat. Meine Bewegungen waren intuitiv und unterbewusst. Vielleicht half mir aber gerade diese Unbewusstheit, denn ich fand mehr und mehr Zugang zu den Bewegungen des Pferdes unter mir, und ich kam immer näher an Karl heran. Und auch Stormy witterte eine Chance seinem alten Herrn mal seine Rückseite zu zeigen.
Karl drehte sich kurz nach hinten, um zu sehen, ob seine Verfolger überhaupt noch auf ihren Pferden saßen. Als er aber sah, wie dicht ich ihm auf den Fersen war, drehte er sich sofort wieder um und trieb sein Pferd weiter an. Und ich dachte, er hätte nur mich hinter ihm gesehen!
Immer mehr Steine sausten jetzt in meine Richtung, und ich zog Stormy ein wenig zur Seite, um nicht völlig im Steinhagel unterzugehen, als plötzlich neben mir Marys Kopf auftauchte.
Plötzlich ist das richtige Wort, denn sie schob sich nicht etwa langsam von hinten heran, sondern zog in einem Affenzahn an mir vorbei. Ich traute meinen Augen nicht. Ich hätte gewettet, daß, wenn überhaupt, dann nur noch Licht schneller war als ich, und nun das! Einen Augenblick nur war sie neben mir, ich guckte verdutzt in Alex erschrockenes und staubiges Gesicht, und schon war sie weg. Meine ganze rasende Geschwindigkeit wirkte nun, als ob ich vor einer roten Ampel stand.
Alex saß tief über Marys Hals gebeugt und hielt sich den Hut fest. Seine Beine umklammerten die Seiten des Pferdes genau an der Stelle, die man berühren muß, um dem Pferd zu sagen, daß es laufen soll. Und Mary lief. Mary beschleunigte noch immer und schoss wie ein weißer Pfeil durch den Creek. Sie war ein Araber. Sie war zum Rennen geboren.
„Friss Staub!“ hörte ich Alex noch schreien, dann war ich auch schon wieder von Besagtem eingehüllt und bekam die ersten Steine ins Gesicht.
Ich versuchte, dranzubleiben, noch weiter zu beschleunigen, aber Stormy war genauso schockiert über Mary Lou wie ich, und scheinbar hatte er den Mut verloren. Wir kamen zwar noch an Karl heran, als wir aber zusammen die Baumgruppe erreichten, die das Ziel markierte, da hatte Alex Mary längst gewendet und trabte uns entgegen. Er lächelte ein wenig ängstlich, Mary hatte wohl etwas übertrieben, aber man sah die grenzenlose Freude in ihm.
Alex erzählte mir später, daß er gar nicht richtig mitbekommen hatte, was Karl gesagt hatte, als er uns das Rennen vorschlug. Als er uns beide aber davon Galoppieren sah, da hätte er einfach auch Gas gegeben. Allerdings hätte er am Anfang gute fünfzehn Meter Rückstand gehabt!
Ich wiederhole noch einmal, damit das hier auch wirklich klar wird: Mary Lou (30) aus Apache Junction, Arizona, USA, Sieger des Dry Creek Races 1998 war mit einem Rückstand von gut zwanzig Metern in ein 300 m langes Rennen auf Sandboden gegen ein zwölfjähriges und ein dreizehnjähriges Pferd eingestiegen und hatte mit einem Vorsprung von gut und gerne fünfzig Metern gewonnen! Noch Fragen?
Ich war so schnell geritten, wie es mein Pferd nur konnte. Nur durch Abspringen hätte ich das Tier noch schneller machen können. Auch Karl hatte seinen Schimmel nicht geschont und alles gegeben. Aber es war nichts im Vergleich zu Marys Geschwindigkeit gewesen.
Mary hatte es allen gezeigt. Sie hatte uns alle deklassiert. Sie hatte sich selbst die Krone aufgesetzt und niemand bestritt ihren Anspruch darauf. Karl war total baff, Alex auch, obwohl er natürlich behauptete, es sei ganz allein der Reiter, der das Rennen entscheide, und ich war hingerissen von ihr. Sogar Bernhard und Cassy konnten es nicht glauben. Mit heraushängenden Zungen kamen sie weit hinter uns herangelaufen. Mary Lou war die Größte! Nun bestand kein Zweifel mehr. Mit stolzgeschwellter Brust ritt Alex nun auf dem kleinen Trail durch die Büsche nach Hause. Himmel, dachte ich, was für ein Pferd! Ich stellte mir vor, ich hätte sie vor zwanzig Jahren ein Rennen laufen sehen. Was hätte ich dafür gegeben! Auf jeden Fall hätte ich mein ganzes Geld auf sie gesetzt.
Bald darauf erreichten wir Karls Haus, versorgten die Pferde und wankten etwas O-beinig in unseren Trailer.
Abends sollte es wieder Wild geben, eine Menge Geschichten, Bier und Witze. Alex und ich waren am Ende unserer Tour angekommen. Morgen früh würde Pat kommen und uns und Mary Lou abholen. Wir freuten uns auf die Woche, die wir noch bei Pat und ihrer Familie verbringen sollten, aber es war uns eng ums Herz, wenn wir daran dachten, unsere Mary abgeben zu müssen.
Am nächsten Morgen sollte es in den Bergen geschneit haben und bitterkalt sein. Wir würden uns von Karl verabschieden und den ganzen Weg nach Apache Junction zurückfahren. Wir würden Mary bei Corky in ihr Gatter sperren, und wenn wir sie besuchen kommen würden, dann würde sie schon wieder auf ihrer nächsten Tour sein. Vielleicht ein verzaubertes Kind durch die geheimnisvollen Superstitions tragen.
Wir saßen noch lange an dem großen Tisch in Karls Haus und tranken auf unser Pferd, am Abend dieses wundervollen Tages, von dem ich gehofft hatte, er würde nie zu Ende gehen.





(weiter geht es mit Kapitel 9: Nachgedanke)


In der Ferne 1, Weltweit