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Kapitel 7


Kapitel 7: Tucson und zurück zu Karl

Der letzte Tag der Tour begann um acht Uhr. Da wir laut Karte nicht mehr allzu viel zu laufen hatten, machten wir alles sehr langsam. Jetzt, am Ende von allem wollten wir gar nicht mehr, daß es zu Ende ging. Die letzten Tage waren so unbeschwert und schön gewesen, daß wir gar nicht mehr nach Tucson wollten. Wir wollten am liebsten wieder zurücklaufen.
Zum Abschied veranstalteten wir noch eine zünftige Badesession am Creek mit unserem berühmten Contest, wer bleibt am längsten im Wasser und brachen erst gegen halb zwölf halb erfroren  auf.
Es war schon angenehm warm und so liefen wir ohne Hemden. Die Sonne stach vom Himmel und überdeckte die ganze Landschaft mit hartem, grellen Licht. Kaiserwetter für unseren feierlichen Einzug in Tucson.
Unser Weg sollte uns heute auf halber Höhe des östlichen Hanges des Sabino Canyon nach Tucson zum Ziel führen. Wir hatten hart gearbeitet für diesen Tag, der den Abschluss unseres Marsches bilden sollte. Wir hatten viel erlebt, gesehen, durchlitten und erkämpft, wir hatten wunderbare Menschen getroffen und uns verändert. Obwohl wir in den letzten beiden Wochen so viel Pech und Ärger gehabt hatten, so liebten wir es doch, durch diese wundervolle Landschaft zu ziehen. Und so war es kein Wunder, daß bei uns so recht keine Freude aufkommen konnte, als sich nach einer Kurve der Canyon öffnete und am Horizont Tucson auftauchte. Alex war es, der es als erster sah und es auf den Punkt brachte.
„Hey, Patrick. Da vorn ist Tucson. Verdammt!“ Aber es lag auch ein wenig Erleichterung in seiner Stimme.



Da wir schätzten, daß wir schon in gut zwei Stunden ankommen würden, gingen wir ein wenig langsamer und versuchten in jeder Sekunde die Landschaft in uns aufzusaugen. Wir betrachteten, wie die gleißende Sonne mit den Schatten an den Felsen spielte, fotografierten die vielen wilden Blumen, die jetzt immer häufiger aus dem Boden schossen und schon ganze Flächen bedeckten.
Wir beobachteten ein paar wirklich fette Hummeln und einige Libellen, die wild brummend ihre Bahnen flogen. Wir entdeckten sogar einen kleinen Frosch, der gut getarnt an einer Felswand hing. Wir krochen vorsichtig näher und machten ein paar Aufnahmen. Als wir uns wieder vom Frosch an der Wand entfernten, merkten wir, daß wir von einem kleinen Mädchen, das wohl mit seiner Familie einen Ausflug machte, beobachtet wurden. Da sie bis jetzt nur unsere verdächtigen Bewegungen gesehen und den Frosch noch nicht entdeckt hatte, deuteten wir auf ihn und sagten ihr, sie solle vorsichtig an ihn herantreten, damit er nicht weghüpfen würde. Dann gingen wir weiter. Als wir uns indessen kurze Zeit später umdrehten, sahen wir das Mädchen in einiger Entfernung bei ihrer Familie stehen. Genau konnte man sie nicht mehr erkennen, aber wir waren uns sicher, daß die ganze Familie gerade den kleinen Frosch gezeigt bekam, den das Mädchen natürlich in der Hand hielt. Wir waren entsetzt! Wir hatten Bruder Frosch ans Messer geliefert! Wir wären für sein Schicksal verantwortlich, wenn ihm etwas zustoßen würde! Wir hatten ihn schmählich verraten! Vor allem mußten wir dringend wieder unter normale Menschen.
Der Tag war so ruhig und entspannt, daß wir unsere Sinne schweifen ließen. Wir wähnten uns schon in Tucsons Sicherheit, als es passierte:
Ich ging gerade vorne weg und summte eines meiner Bon Jovi Lieder, als es plötzlich neben einem Bein ein scharfes Rasseln gab. Es zerriß die einlullende Stille und Wärme um mich herum, auf einmal wurde die Welt zu Streifen und raste an mir vorbei. Ich hatte dieses Geräusch noch nie im Leben gehört, aber ich wußte sofort, was es bedeutete. Noch bevor ich überhaupt wußte, was geschah, landete ich schon nach einem gewaltigen Satz aus dem Stand etwa drei Meter weiter im Gebüsch. Mein Herz raste. Mein Körper hatte instinktiv reagiert. Das Geräusch war so eindeutig gewesen, daß meine Muskeln ohne Befehl vom Hirn gehandelt hatten. Ich war gesprungen. Ich war weit gesprungen. Ich hatte dieses Geräusch noch nie gehört, aber es gab nur eine Möglichkeit, woher es kam!
Ich hatte sie nicht gesehen! Verflucht, ich hatte die verdammte Schlange nicht gesehen! Wo war Alex?
Alex rappelte sich gerade wieder auf. Nachdem er hinter mir gehend ebenfalls das Rasseln gehört hatte, hatte er sich mit einem Sprung nach hinten aus der Gefahrenzone gebracht. Er guckte verdutzt auf die Schlange und dann auf mich.
„Verdammt, wie lange willst Du denn noch warten, um das Biest zu fotografieren?“, waren seine ersten Worte. Ich glotzte ihn an, grinste dann erleichtert und sah die Kamera in meiner Hand. Keine Ahnung, wie die da hin gekommen war. Sie wollte wohl benutzt werden.
Am Rand des Pfades, etwa dreißig Zentimeter von der Stelle, auf die ich meinen Fuß gesetzt hatte, lag eine riesengroße (soweit ich das beurteilen kann) getigerte Klapperschlange zusammengerollt in der Sonne. Ihre Rassel war aufgestellt und mit dem Kopf guckte sie züngelnd in unsere Richtung. Da ich nicht schon wieder so nah ran gehen wollte, fuhr ich den Zoom an meiner Kamera voll aus und visierte sie an.
„So wird das aber nichts!“, sagte ich nach ein paar Versuchen. „Niemand wird sehen können, wie riesig das Ding gewesen ist. Du musst sie irgendwie auseinanderziehen!“
„Erstens ist sie nicht riesig, und zweitens kannst Du das selber machen!“ Alex blieb Realist. Aber er begann immerhin damit, kleine Steine in Richtung der Schlange zu werfen. Und als er sie aus Versehen traf, was er gar nicht beabsichtigte, setzte sie sich tatsächlich in Bewegung und kroch davon. Vor lauter Aufregung habe ich alle Bilder verwackelt. Für eine solch miese Aktion gab es eben keine guten Bilder, da waren sich die Berggeister einig.



Noch lange über den Schrecken diskutierend liefen wir weiter Richtung Tucson. Aber wir waren uns einig: was wäre die Tour ohne eine Begegnung mit einer Schlange? So etwas gehörte einfach dazu. Wir hatten schließlich Abenteuer gebucht. Wir lachten verkrampft und irgendwie zu laut. Insgeheim habe ich aber den Geistern gedankt, daß sie mir meinen Fehler, nicht auf den Weg zu achten, verziehen haben. Ich war dankbar für die Begegnung mit der Schlange, denn ich wollte unbedingt eine sehen. Und ich hatte auch wieder aus einem Fehler lernen können, ohne gleich dabei drauf zu gehen. Ich lachte, aber ich hatte verstanden.
Je weiter wir in Richtung Tucson kamen, desto mehr Ausflügler kamen uns jetzt entgegen, die uns ohne Mary Lou gar nicht mehr so viel Beachtung schenkten. Es war vielmehr eine kleine Feindschaft und Ablehnung dem anderen gegenüber zu spüren, weil ja alle anderen ebenfalls da die einsame Natur suchten, wo man selbst gerne allein gewesen wäre. Mit Mary waren wir immer ein wenig von diesem Phänomen dieses Neides ausgenommen gewesen, vielmehr waren wir eine Attraktion und als Abwechslung willkommen. Jetzt aber waren wir wie alle anderen auch, und wurden wie alle anderen verachtet.



Unten im Tal tat sich aber etwas anderes auf, das eigentlich die gebündelte Ablehnung aller wahren Trekker hier oben man Canyonhang verdient hätte. Eine Wendeschleife für Ausflugsbusse aus Tucson! Drei Busse standen dort und eine bunte Menge Touristen schwärmte gerade aus, um an einem kleinen Wasserfall, der wohl die Attraktion hier war, ein paar richtig gute Fotos zu machen. Eine Stimme quäkte aus einem Lautsprecher und versuchte auf einige interessante geologische Formationen aufmerksam zu machen.
Die Busse waren alle von der hiesigen Rangerstation, und wir vermuteten, daß die Lumpen ordentlich viel Geld für die Trips nahmen. Kopfschüttelnd sah uns ein anderer Wanderer an, der die Szene zur gleichen Zeit gesehen hatte wie wir.
„Total bekloppt!“, sagte er, und wir nickten. Und eine Art Verbundenheit unter echten Helden ließ sich spüren.
Der Weg zog sich weiterhin am Hang entlang, verlor aber bald schnell an Höhe und näherte sich dem Boden des Canyons, wo auch die Straße verlief. Wir hatten unser Wasser schon vor geraumer Zeit getrunken und freuten uns jetzt auf eine kalte Cola.
Wir erreichten die Grenze des State Parks und liefen hindurch. Mit etwas Besorgnis stellten wir fest, daß hier nirgends Zelte standen, sondern nur mit dem Auto zu erreichende Picknick-Areas ausgeschildert waren. Wir balancierten über das Geländer einer überfluteten Brücke und hatten das letzte Hindernis gemeistert. Mit einem letzten Spurt erreichten wir den Fahnenmast der Rangerstation. Oben wehten die Fahne des US National Forest Service und die amerikanische Flagge. Hier war unser Ziel. Wir hatten es geschafft! Tucson! Hurra! Nach all dem Schlamassel waren wir doch noch angekommen. Abgerissen, ohne Pferd und ohne Gold. War es ein Sieg, ein Erfolg? Verlegen stellten wir unsere Rucksäcke ab und warteten jeweils auf die Reaktion des anderen.
Was sollten wir sagen? War es das wert gewesen? War der Traum, der uns vierhundert Kilometer durch die Wüste getrieben hatte wahr geworden? Konnte er das? War es jetzt vorbei? Wenn ja, wovon sollten wir von nun an träumen? Und wenn nicht, gab es ein Ende? Fühlte ich Freude in mir, oder war ich nur froh, daß es vorbei war? Durfte ich stolz sein? War dies mein strahlend weißer Gipfel im alltäglichen Grau meines Lebens? Hatte diese Stunde in alle Ewigkeit Bestand für mich? War es gut?
„Jaaaa!“, jubelten wir plötzlich zusammen auf und lagen uns unbeholfen in den Armen. Eng umschlungen hüpften wir wie ein Flummi über den Platz. Wir klopften uns anerkennend auf die Schultern und gratulierten uns mit wilden Gesten. Dann tanzten wir unseren Lagerfeuertanz. Die anderen Leute hielten uns für total verrückt.
Wir suchten schnell ein Telefon, denn die Zeit war schon fast zu vorgerückt, um bei unseren Freunden und Verwandten in Deutschland anzurufen und ihnen unseren Erfolg mitzuteilen. Immerhin gibt es ja noch diese komische Zeitverschiebung und niemand freut sich darüber, wenn er mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wird, nur weil irgendein Idiot ihm unbedingt erzählen will, daß er gerade 400 km durch Arizona gelaufen sei, und damit seinen Traum wahr gemacht habe.
Doch obwohl wir noch zu einer sehr moderaten Uhrzeit anriefen, nämlich um 20.00 Uhr deutscher Zeit, war der Jubel gering.
„Ihr seit da? Toll. Hör mal, Patrick, da ist so ein Brief von der Uni gekommen...“ Wow. Triumphal. Wirklich.
Bei Alex das gleiche.
„Tag Alex. Endlich meldest du dich mal. Du sollst ganz schnell den Thomas wegen dem Computerspiel anrufen, hörst du?...“ So werden Helden gefeiert.
Irgendwie konnte keiner so richtig nachvollziehen, was wir gerade fühlten, und so waren wir etwas enttäuscht vom Feedback unserer lieben Daheimgebliebenen. Wenigstens ein bisschen Erleichterung hätten wir hören wollen, wenn schon keine Begeisterungsstürme aufkamen. Aber wir wollten uns nicht unterkriegen lassen.
Zur Feier des Tages gingen wir zu einem Getränkeautomaten und gaben uns gegenseitig Dr. Pepper Cola und Root-Beer aus. Und wir tranken auf Mary Lou, das beste Pferd der Welt.
Da die Sonne so brannte, daß man kaum außerhalb des Schattens sitzen konnte, gingen wir bald in die Rangerstation und erkundigten uns, wo wir denn unser Zelt aufstellen könnten. Und schon hatten wir wieder Probleme.
Dieser State Park hier war nämlich nicht wie der Lost Dutchman State Park in Apache Junction, oder der Catalina State Park nördlich der Catalinas. Hier konnte man im Gegensatz zu den beiden anderen nicht zelten.
Man schlug uns vor, wieder ein Stück zurück in die Berge zu laufen, und dort zu zelten, aber das wollten wir nicht. Wir hatten vor, uns in den nächsten Tagen Tucson anzusehen, und wollten dazu nicht immer erst kilometerweit durch die Pampa laufen. Noch dazu unser Zelt mit der ganzen Ausrüstung so nah bei einer Stadt unbeaufsichtigt zurücklassen! Nein, wir wollten jetzt einen Campingplatz in Tucson, und wir wollten Duschen. Die Rangerin bewies sich als genauso verständnislos, wie wir es von allen anderen Rangern bis jetzt gewohnt waren.
Ja, sie kenne einen Campingplatz, aber sie wüsste nicht genau, wo er liege. Aber es müßten etwa zehn Meilen bis dorthin sein. Was, wir hätten gar kein Auto? Das sei ja ganz unmöglich, wie wir denn hier hin gekommen wären? Oh, ach so, wie ungewöhnlich. Tja, aber da wäre wohl nichts zu machen.
Wir ließen es gut sein mit ihr, denn wir wollten die Gute ja nicht unnötig stressen, liehen uns von ihr ein Telefonbuch und gingen zum Kartentelefon an der Wand. Wir riefen überall in der Stadt an, wo man ein Bett und eine Dusche kriegen konnte, aber entweder war alles voll, zu teuer, oder zu weit weg. Sogar die Bahnhofsmission wollte uns nicht haben. Irgend etwas lief schon wieder schief.
Ein komisch dünn aussehender Mann hantierte in der Nähe mit einer Karte von Tucson rum, und so fragte ich ihn einfach, ob ich mal einen Blick riskieren könne. So kam ich mit ihm ins Gespräch, in das sich später auch noch sein Freund einmischte. Die beiden hießen Tim und Tom und waren ganz offensichtlich schwul. Auf jeden Fall erklärten sie sich bald bereit, uns bis zu diesem Campingplatz in zehn Meilen Entfernung zu fahren. Zuerst wollten sie sich aber noch die Schlucht ansehen, sie hätten sich schließlich gerade für zwölf Dollar fünfzig Karten für die Busfahrt gekauft. Ich verdrehte die Augen.
Als die beiden in den Bus stiegen, gingen wir nochmals zu der Rangerin, die gerade einem dicken Mann mit dreckig verspeckter Kappe, dessen Pickup mit laufendem Motor vor der Tür stand, sehr sachkundig den bestens ausgeschilderten Weg zu einer Picknick-Area erklärte. Sie sah uns kommen und zog das Gespräch absichtlich in die Länge, weil sie wohl hoffte, daß ein anderer Ranger frei werden würde, der sich um uns kümmern könnte. Doch niemand kam. Sichtlich genervt fragte sie uns schließlich, was wir jetzt wieder wollten. Den Weg zum nächsten Supermarkt natürlich. Ohne Auto? Klar. Sie lächelte mitleidig.
„Da müsst ihr einfach nur eineinhalb Meilen die Straße runter gehen.“ Jetzt hatte sie es uns aber gegeben. Eineinhalb Meilen!
„Geil, so nah? Dann geh ich jetzt los und bin in 45 Minuten wieder da. Du wartest hier bei der Ausrüstung.“, sagte ich zu Alex, und die Rangerin erblasste. Jetzt hatten wir es ihr aber gegeben. 45 Minuten!
Wir machten eine Einkaufsliste, und ich rannte los.
Nun, ehrlich gesagt hätte ich die Strecke plus Einkaufen niemals so schnell geschafft, zumal ich mich auch noch verlief, und so war ich froh, als ich auf halbem Rückweg von Krämpfen in den Armen von den schweren Tüten geschüttelt, ein Auto neben mir stoppen sah. Ich war schon eine gute Stunde unterwegs. Alex streckte seinen Kopf aus dem Fenster.
„Mann, bist Du lahm!“ Ich hätte ihn fast erwürgt.
Ich setzte mich zu ihm auf den Rücksitz und erzählte ihm, was ich wieder alles vergessen hatte, und was ich in der Eile nicht gefunden hatte. Aber ich hatte Snickers gekauft, und alles war in Butter. Tim und Tom, die alles mitgehört hatten, nahmen unser Gespräch zum Anlaß sich über ihre eigene Verpflegung zu streiten.
„Du kümmerst Dich doch überhaupt nie um unser Essen, Du Faulpelz!“, fauchte Tim.
„Das lass ich mir von Dir nicht sagen! Nicht von Dir! Selber Faulpelz!“, giftete Tom zurück.
Wir auf der Rückbank grinsten, als es vorn ordentlich zur Sache ging. Die beiden ließen die Fetzen richtig fliegen.
Nach einiger Zeit  erinnerten sie sich aber wieder an uns hinten und beruhigten sich. Wir sprachen über ihren Ausflug in den Canyon und über das Leben in Tucson. Wir fragten auch noch kurz nach der Escalante Mine, aber die beiden hatten davon noch nie gehört. Sie waren ganz nett, denn sie hatten uns einen großen Gefallen getan, aber irgendwie waren wir alle froh, als wir endlich am Campingplatz ankamen.
Der Campingplatz lag extrem weit außerhalb der Stadt und schon bald stellte sich heraus, daß wir noch nicht einmal einen Bus benutzen konnten, um uns in der Stadt umzusehen, weil hier weit und breit keiner hielt. Dieses Land war nur für Autos gemacht worden. Also beschloss Alex, am nächsten Tag einen Mietwagen zu nehmen, um uns ein wenig mobiler zu machen. Als dann am nächsten Morgen der Wagen gebracht wurde, stellte Alex allerdings entsetzt fest, daß er gar keinen Führerschein dabei hatte. Also zog der Junge, der den Wagen bringen sollte mit grimmigen Gesicht und keinem Trinkgeld wieder ab.



Da uns die Stadt so langsam auf die Nerven ging, packten wir unser Zelt zusammen, nahmen uns für 39 Dollar ein Taxi nach San Xavier del Bac, der berühmten weißen Missionskirche in Tucson, besichtigten sie kurz und trampten dann per Anhalter mit einem dicken Indianer nach Tucson Downtown. Von hier aus nahmen wir nach einem Bier in einem Saloon den Bus Richtung Karls Ranch. Wir hatten einfach keine Lust mehr auf dieses blöde Herumsuchen nach Möglichkeiten durch diese Stadt zu kommen. Außerdem wollten wir ganz schnell wieder zu Mary Lou.
Etwa fünf Meilen von Karls Haus entfernt stiegen wir an einem Supermarkt aus und deckten uns dick mit Bier ein. Dann riefen wir bei Karl an und sagten ihm, wo wir stünden. Und daß wir zuviel Bier hätten, um es zu ihm zu schleppen. Wenn er uns abholen käme, würden wir mit ihm teilen. Zehn Minuten später war er da.
Er freute sich, uns wieder zu sehen und seine ersten Worte waren: „Ihr habt es geschafft? Gute Sache“. Und es lag eine Menge Anerkennung in diesen Worten. Er nahm uns mit zu sich nach Hause und überließ uns wieder seinen Camping-Trailer.
Etwas später, nachdem wir Mary Lou begrüßt und unsere Sachen ausgepackt hatten, nahm er uns noch mit zu einer hübschen Ranch, auf der er sich für eine Freundin ein Pferd ansehen sollte, das diese kaufen wollte.
Ich habe wohl in meinem ganzen Leben noch kein prächtigeres Pferd gesehen. Es war ein siebenjähriger, weißer Quarterhorsehengst mit einem Stockmaß von gut und gerne 1,8 m. Er hatte riesige Muskelberge und ein wunderschönes Gesicht. Ich fiel fast in Ohnmacht, als ich den Preis hörte. 3000 Dollar! Das war geschenkt! Dafür würde ich ihn nehmen, ohne seinen Namen zu kennen! Wir hatten für ein uraltes Pferd mit schiefen Zähnen 1000 $ Leihgebühr bezahlt!
Die junge Lady, die ihn kaufen wollte hatte sichtlich Angst vor dem großen Tier, obwohl er ganz zahm war. Und wie er am Zügel ging! Eine Pracht! Ich war mir sicher, ihn in Deutschland für das zwanzigfache verschleudern zu können. Und der Käufer hätte immer noch das Gefühl gehabt, daß er mich übers Ohr gehauen hätte.
Karl ritt einige Runden auf dem Pferd und konnte der Dame nicht sagen, daß das Pferd einfach zu schade für sie war. Es war gottlose Verschwendung, ein solches Tier an sie zu verkaufen. Aber er war zu feige, es zu sagen. Also lobte er das Pferd und machte sich aus dem Staub.
Wir fuhren komisch berührt nach Hause und wußten alle, daß es nicht richtig gewesen war, ihr das Pferd zu überlassen, aber was hätten wir tun sollen? Ich war auch kein guter Reiter, und ich hätte das Pferd auch haben wollen.
Zuhause angekommen machten wir uns daran, das Abendessen vorzubereiten. Wir erzählten Karl von der Klapperschlange im Sabino Canyon. Er sagte, wir hätten ziemliches Glück gehabt, da die Schlangen im Moment noch nicht ganz so fit wären wie im Sommer, aber ihr Gift durch den Winterschlaf hochdosiert wäre. Und sie wären sehr aggressiv, weil sie durch den langen Winterschlaf ausgehungert wären.
Er ging mit einem verschwörerischen Blick zu einer seiner Kühltruhen, griff beherzt hinein und holte eine eingefrorene Klapperschlange ohne Kopf heraus.
„Wie wäre es denn mit einem kleinen Schlangen-Snack?“
Die Schlange war eine echte Western Diamand Back Rattlesnake und fast so lang, wie ich groß war. Und ich bin ein Lulatsch, jedenfalls behauptet das meine Freundin. Von kleiner Snack konnte scheinbar überhaupt keine Rede sein.
„Äh, ... ja klar!“
Karl legte die gefrorene Schlange zuerst in warmes Wasser, um sie aufzutauen. Dabei erzählte er uns noch ein wenig mehr über die Schlange.
Er war ganz froh darüber, daß wir sie mit ihm aßen, denn seine Freundin Kristen hatte für so etwas gar nichts übrig. Er selbst hatte schon oft Schlange gegessen. Allerdings nie, wenn Anne dabei gewesen war.
„Wenn du die Schlange so getroffen hast, daß sie stirbt, dann musst du dir ganz fix einen Stock suchen und ihn in ihr Genick drücken, damit der Kopf nicht mehr so hin und her hüpft“, fuhr er fort. „Das kann manchmal hübsch schwierig sein, weil sich die Dinger wie verrückt um alles schlängeln, was in die Nähe kommt. Die können schon ‘ne halbe Stunde tot sein und bewegen sich immer noch. Wenn du den Kopf dann hast, musst du ihn abschneiden und so tief vergraben, daß selbst deine Hunde nicht mehr drankommen. Der Kopf ist verdammt gefährlich. Du darfst ihn um Himmelswillen nicht offen rumliegen lassen. Und du musst gut aufpassen, wenn du ihn abschneidest, weil sich der übrige Körper wie eine Peitsche um deinen Arm legt. Das kann verdammt weh tun. Und es ist ganz schön gespenstisch.“ Er nahm die Schlange und wedelte sie ein wenig vor unseren Gesichtern hin und her. Er grinste. Wir holten Luft.
Er nahm sein Messer aus der Tasche und begann, der Schlange den Bauch aufzuschneiden, um sie ausnehmen zu können.
Zu unserer Verwunderung war in der Bauchhöhle der Schlange fast gar nichts drin. Es war nicht wie bei einem Fisch, bei dem die ganze Bauchhöhle ausgefüllt ist. Nur unterhalb der Wirbelsäule verliefen ein paar Adern und Därme.
„Gut, daß die Sau vorher nicht noch eine Ratte gefressen hat.“ Ich wollte mir diese Vorstellung besser nicht vor mein inneres Auge führen.
Dann bat Karl uns, die Schlange gut festzuhalten, damit er ihr die Haut abziehen konnte. Die Schlange war schwer, obwohl sie ja schon ausgenommen war, und ich konnte mir ihre Kraft vorstellen, mit der sie zweifellos eine perfekte und tödliche Jagdmaschine war. Ihre Haut faszinierte mich. Sie sah feucht aus und hart, aber als ich sie anfasste, war sie trocken und glatt. Ihre Musterung auf dem Rücken glich tatsächlich aneinandergereihten Diamanten und die Schuppen schimmerten in tausend Farben. Ich war hingerissen von ihr. Sie mußte eine Schönheit gewesen sein.
Das Abendessen war unserem Abenteuer in Arizona als Abschluss angemessen, denn es gab neben rauen Mengen an Reh und Klapperschlange auch Salat, frisches Brot, Gemüse, Kartoffeln und sehr viel Bier.  Nur Kristen, Karls Freundin, machte unseren kindlichen Spaß etwas zunichte, als sie nach Hause kam.
„Was zur Hölle...? Nein, Karl, wenn Du schon wieder Schlange isst, küsse ich Dich nie wieder!“ Schade, schade.
Wir hatten die Schlange in fünf etwa gleich große Stücke geschnitten und mit Salz und Pfeffer gewürzt. Dann hatten wir sie über dem offenen Kamin gebraten. Schon dabei war uns aufgefallen, wie wenig Fleisch an der großen Schlange war. Nur oben entlang der Wirbelsäule und zwischen den tausend Rippen war ein wenig. Satt konnte man davon nicht werden. Oder jeder von uns hätte eine eigene gebraucht. Aber zum Probieren sollte es reichen. Immerhin verzichtete Kristen dankend auf ihren Teil.
Das Schlangenfleisch schmeckte wie Hühnchen und hatte die Konsistenz von Calamari. Ungewöhnlich, aber lecker. Dazu hörten wir bis spät in die Nacht Blue Grass Music von Kate Wolf. Und Jon Bon Jovi sei ein East Coast Rocker, damit wolle man hier nichts zu tun haben. Ja, ja, das hatte ich schon mal gehört.
In einem Akt der männlichen Verbrüderung (und Besoffenheit) tauschten Karl und ich auch noch unsere Messer miteinander und machten so den Club der verschworenen Wüstenreiter dicht.
Karl versprach uns noch einmal, uns am nächsten Tag zu der Stelle zu führen, an dem er die indianischen Tonscherben gefunden hatte. Außerdem wollte er uns noch einen Wasserfall in einem versteckten Canyon zeigen. Was für ein Tag stand uns bevor! Ich konnte es gar nicht fassen. Glücklich schlief ich ein.
(weiter geht es mit Kapitel 8: Das Dry Creek Race 1998)


In der Ferne 1, Weltweit